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Blickpunkt Musical 02-23 - Ausgabe 122

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Einblick<br />

Ich brauche die Stille und Intensität, um die<br />

Erfahrungen meiner Figuren nachzuempfinden<br />

Autorin und Komponistin Alice Gillham über»Calling Us Home«<br />

Da herrscht dann so eine große Freude und es gibt<br />

so viel zu lernen – da sehne ich mich manchmal<br />

nach der Ruhe meines kreativen Schutzraums<br />

zurück.<br />

blimu: Im Gegensatz zum bedrohlichen Zustand<br />

dieser Erde transportieren Ihre Werke stets lebensbejahende<br />

Botschaften. Woher nehmen Sie diese<br />

Kraft?<br />

AG: Ich bin nicht so stark, wie manche Leute<br />

denken. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mich<br />

mein Drang zu schreiben und zu komponieren,<br />

stets vorwärts treibt. Ich hoffe, dass meine Stücke,<br />

die allesamt unsere Hoffnung und Fähigkeit zum<br />

Widerstand zelebrieren, andere Menschen genau<br />

darin bestärken.<br />

Foto: privat<br />

blickpunkt musical: Frau Gillham, die meisten<br />

<strong>Musical</strong>s basieren auf Romanen oder Filmen.<br />

»Calling Us Home« ist eine neue, herzergreifende<br />

Geschichte. Was inspirierte Sie zu dem Stück?<br />

Alice Gillham: Vor einigen Jahren ging ich durch<br />

die Straßen Londons. Ich fühlte mich sehr allein<br />

unter dem grauen Himmel im kalten Regen. Als<br />

ich um mich blickte, sah ich viele Menschen, die,<br />

wie ich, aus unterschiedlichen Teilen der Welt<br />

kamen. Ich fragte mich, wie sie wohl mit ihrem<br />

Heimweh umgehen und ob es ihnen gelänge,<br />

wieder einen Ort zu finden, den sie »Zuhause«<br />

nennen könnten? »Calling Us Home« behandelt<br />

diese Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln.<br />

blickpunkt musical: Pandemie, Krieg und Klimakrise<br />

veränderten die Welt einschneidend. Wie hat<br />

das Ihr Werk beeinflusst?<br />

AG: Ich wollte über die Geschichte und insbesondere<br />

den emotionalen Einfluss meiner Musik beschreiben,<br />

dass wir Menschen die Möglichkeit haben,<br />

uns mit aller Macht und Widerstand den globalen<br />

Herausforderungen zu stellen. »Calling Us Home«<br />

zeigt auf, dass wir zu allem fähig sind, solange wir<br />

Hoffnung und Liebe am Leben erhalten.<br />

blimu: Für »Calling Us Home« haben Sie ein internationales<br />

Team zusammengestellt. Der Regisseur<br />

kommt aus New York, die Kostümbildnerin aus<br />

Taiwan. Wie konnten Sie die Produktion vorausplanen?<br />

Immerhin befanden wir uns noch inmitten<br />

der Pandemie.<br />

AG: Die Pandemie hat uns alle schwer getroffen.<br />

Es gab Tage, da war ich ängstlich und dachte, es<br />

bricht mir das Herz. Aber während der Krise war<br />

ich mehr denn je davon überzeugt, das »Calling<br />

Us Home« genau eine jener Geschichten ist, die<br />

die Menschen hören wollen. Das bestärkte mich<br />

darin, an die Botschaft der Geschichte zu glauben<br />

und nach Mitstreitern zu suchen, die diesen<br />

Glauben teilen. Ich wusste, dass die Pandemie eine<br />

enorme Auswirkung auf den Zeitplan nehmen<br />

würde, also hielt ich durch und arbeitete weiter,<br />

stets darauf bedacht, dass es sich nicht um eine<br />

rein afrikanische Geschichte handeln sollte. Sie<br />

soll global gültig sein und verschiedene Perspektiven<br />

vieler Menschen weltweit widerspiegeln. Ich<br />

entschied mich für einen Regisseur und einige<br />

kreative Köpfe und Darstellerinnen und Darsteller,<br />

die nicht aus Südafrika stammen. Dafür wurde ich<br />

reich belohnt, denn ich fand in Peter Flynn einen<br />

sensiblen und brillanten Spielleiter, den Lichtdesigner<br />

Alan Edwards, unsere Kostümbildnerin Pei<br />

Lee und die beiden Hauptdarsteller, deren Migrationshintergrund<br />

als Südafrikaner in den USA mit<br />

denen ihrer Figuren identisch ist.<br />

blimu: Die gesamte Arbeit bestreiten Sie fast im<br />

Alleingang. Haben Sie keine Angst vor Einsamkeit?<br />

AG: Ich erlebe sie, aber ich fürchte sie nicht. Sie<br />

gehört zum Schreiben und Komponieren dazu. Ich<br />

brauche die Stille und Intensität, um die Erfahrungen<br />

meiner Figuren nachzuempfinden und jeder<br />

von ihnen einen eigenen, musikalischen Ausdruck<br />

verleihen zu können. Wenn es zur Produktion<br />

kommt, ist das alles andere als einsam. Das fühlt<br />

sich dann an wie ein fantastischer Sturm von Menschen,<br />

ihrem Tun und ihren Herausforderungen.<br />

blimu: »Calling Us Home« ist ein Fest des Lebens,<br />

aber auch von politischer Brisanz – gerade heutzutage,<br />

da sich über hundert Millionen Vertriebene<br />

auf der Flucht befinden. Die Menschen sehen sich<br />

Hass und Rassismus ausgeliefert. Haben Sie das in<br />

Ihre Gedanken eingebunden?<br />

AG: Natürlich. Man kann diese Reaktionen nicht<br />

ignorieren. Millionen von Menschen, überall auf<br />

der Welt, müssen an einem gewissen Punkt des<br />

Lebens die Flucht ergreifen – heute wie zu Zeiten<br />

ihrer Ahnen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ich<br />

verstehe, dass das in großer Furcht und Ablehnung<br />

resultieren kann. Aber ich denke, dass wir es uns<br />

nicht leisten dürfen, Freundlichkeit und Mitgefühl<br />

aus den Augen zu verlieren, wenn wir mit dem Leiden<br />

anderer konfrontiert sind. Jede Figur aus »Calling<br />

Us Home« ist ein menschliches Individuum,<br />

keine Zahl in einer Statistik. Das Stück dreht sich<br />

darum, Empathie und Zärtlichkeit wachzurufen.<br />

Es veranstaltet keine Trommelwirbel oder positioniert<br />

sich politisch. Ich glaube zutiefst daran, dass<br />

Kunst und Musik direkt unsere Gefühle und Herzen<br />

ansprechen, und dass dies ein Weg sein kann,<br />

die Welt zu verändern.<br />

blimu: Ihre Musik und Worte sind voller Freude<br />

und Hoffnung. Im Mittelpunkt steht das Thema<br />

»Heimat«. Wo ist Ihre Heimat? Haben Sie diese<br />

schon gefunden?<br />

AG: Die Heimat meines Herzens ist Afrika.<br />

blimu: Wir bedanken uns für das informative<br />

Interview.<br />

Das Interview führte Daniel Call<br />

blickpunkt musical <strong>02</strong>/2<strong>02</strong>3 73

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