Ausgabe 6/2008 - Deutsche Olympische Gesellschaft
Ausgabe 6/2008 - Deutsche Olympische Gesellschaft
Ausgabe 6/2008 - Deutsche Olympische Gesellschaft
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
die Migranten, die Türken, die Marokkaner, die Griechen, die<br />
Italiener gefragt: ‚Was verstehen Sie unter Sport?'" Heraus<br />
kam: Sport ist für sie Fußball, Basketball, Boxen, Ringen. Mit<br />
Breitensport und Vereinssport hatten sie nichts im Sinn und<br />
erst recht nichts mit Sport für Frauen. "Das Freizeitverhalten<br />
von Südländern ist ganz anders als das von Mitteleuropäern.<br />
Man trifft sich, isst und trinkt viel, man unterhält sich über<br />
Gott und die Welt. Man packt nicht wie bei den <strong>Deutsche</strong>n<br />
üblich die Kinder und geht zum Schwimmen." Daraus folgerte<br />
die Einsicht: "Wir kommen mit den Ideen, Programmen und<br />
Materialien des LSB nicht in die Wohnzimmer der Migranten<br />
und in die Köpfe der Familien." Gül Keskinler hatte dann die<br />
zündende Idee: "Wir müssen die Migranten mit dem Thema<br />
‚Gesundheit' aufrütteln, bei ihren Problemen mit den Gelenken,<br />
dem Rücken, dem hohen Blutdruck oder der Diabetes<br />
einhaken." Sie hat sehr schnell ein Netzwerk von Ärzten,<br />
Ernährungsberatern, Sportsoziologen aufgebaut, die aus dem<br />
jeweiligen Kulturkreis stammten und die Teilnehmer an den<br />
Gesundheitsseminaren in ihrer vertrauten Sprache zu der<br />
Botschaft führten: "Ihr müsst euch bewegen!"<br />
Bei den Türken war die Resonanz besonders gut. "Denn wir<br />
haben die Seminare am Sonntagnachmittag in den Räumlichkeiten<br />
der Moscheen und Kulturvereine gemacht, dort wo<br />
sich die Familie ohnehin trifft." Es sei nicht das Ziel gewesen,<br />
die Großmutter für den Sportverein zu gewinnen. "Aber wenn<br />
die Oma das Sportangebot für Seniorinnen in einem<br />
Moscheeverein annimmt und sich jeden Mittwoch oder<br />
Freitag sportlich betätigt, dann wirkt sie als Vorbild und trägt<br />
das Thema in die Familie." Allmählich stellte sich der Erfolg<br />
ein. Inzwischen sind in Frankfurt am Main, Darmstadt und<br />
Rüsselsheim mehr als sechzig Übungsleiterinnen aus den<br />
verschiedensten Ländern ausgebildet worden. Außer der<br />
Vermittlung sporttechnischer Inhalte wurden die Frauen vor<br />
allem sprachlich so fit gemacht, dass sie sich auch in den<br />
deutschen Sportvereinen ihres Stadtteils behaupten können.<br />
Denn dort haben sie immer noch Widerstände zu überwinden,<br />
auch wenn viele Vereine dabei seien, die alte Sichtweise<br />
zu überwinden: Wer zu uns kommt, muss so sein oder so<br />
werden wie wir.<br />
Eine große Rolle in der Integrationsarbeit spielt für Gül Keskinler<br />
der Fußball. Der ist ihr nicht nur durch ihren Sohn<br />
vertraut. "Die Profis des 1. FC Köln mit Wolfgang Overath, mit<br />
"Toni" Schumacher und Pierre Littbarski haben früher am<br />
Waldrand in Bensberg trainiert. Da waren wir Kinder natürlich<br />
dabei." Mit ihrer Agentur betreute sie zuletzt das Modellprojekt<br />
"Fußball ist das Tor zum Lernen", das vom DFB, der Bundesagentur<br />
für Arbeit, dem Land Hessen und dem Hessischen<br />
Fußballverband getragen wird. Damit wurden im Frankfurter<br />
Raum junge, in der Mehrzahl männliche Langzeit-Arbeitslose<br />
mit Eltern von Einwanderern durch Berufsbildungsmaßnahmen<br />
wieder an eine geregelte Tätigkeit herangeführt. Die<br />
Möglichkeit, die C-Lizenz "Fußballtrainer Breitensport" zu<br />
32<br />
erwerben oder sich als Schiedsrichter ausbilden zu lassen,<br />
trug wesentlich zu ihrer Motivation bei. Von 32 Teilnehmern<br />
blieben 27 bei der Stange und erhielten Praktikumsplätze in<br />
verschiedensten Unternehmen. Ein Erfolg, der es ermöglicht,<br />
in Kürze das Projekt neu aufzulegen.<br />
Schlagzeilen machte Gül Keskinler, als der <strong>Deutsche</strong> Fußball-<br />
Bund sie vor zwei Jahren zu seiner ehrenamtlichen Integrationsbeauftragten<br />
berief. Schon vorher war sie gefragt in<br />
Talkshows von Sabine Christiansen bis Maischberger, nahm<br />
kürzlich wieder am dritten Integrationsgipfel unter der Leitung<br />
von Angela Merkel teil und wurde zur Beratung des<br />
Nationalen Integrationsplans hinzugezogen.<br />
Als kooptiertes Mitglied des DFB-Vorstands eröffnen sich Gül<br />
Keskinler gute Möglichkeiten, ihre Vorhaben im Fußball<br />
durchzusetzen. Nicht zuletzt, da DFB-Präsident Theo Zwanziger<br />
das Thema Integration, das mittlerweile auch im Schulund<br />
Mädchen-Fußball Eingang findet, zur Chefsache gemacht<br />
hat. Inzwischen haben die meisten der 21 Landesverbände<br />
des DFB ebenfalls "Brückenbauer zwischen den Kulturen"<br />
berufen. Gül Keskinler zieht durch die Lande und spricht in<br />
permanenter Überzeugungsarbeit über das gesellschaftliche<br />
Phänomen der Integration durch Fußball, die als nächstes die<br />
Basis der Vereine erreichen soll. "Im türkisch-sprachigen<br />
Fernsehen wollen wir in Talkshows auf die Bildungsangebote<br />
von Vereinen und Verbänden hinweisen und so in die Wohnzimmer<br />
kommen." Ein Großteil der 1.000 Minispielfelder sind<br />
mittlerweile hauptsächlich in Stadtteilen mit hohem Anteil an<br />
Migranten gebaut worden, deren Kinder über den Fußball in<br />
die Gemeinschaft wachsen sollen. Mit solchen Aktionen<br />
könnten, so hofft sie, die latente Diskriminierung abgebaut<br />
und die Gewalt, in der junge Migranten nicht selten ihre<br />
gesellschaftliche Frustration im Fußball ausleben, verringert<br />
werden.<br />
Dazu können Ereignisse wie das EM-Spiel zwischen Deutschland<br />
und der Türkei beitragen, das in entspannter Atmosphäre<br />
über die Bühne ging. "Besonders positive Wirkungen hatten<br />
die Botschaften von Bundestrainer Joachim Löw, wie gastfreundlich,<br />
wie fußballbegeistert die Türken sind. Die türkisch-sprachigen<br />
Medien haben ausführlich darüber berichtet.<br />
Das hat den Türken sehr gut getan", berichtet Frau Keskinler.<br />
Viel verspricht sie sich von der nachrückenden Einwanderer-<br />
Generation. Mustafa Dogan hatte vor neun Jahren als erster<br />
türkischstämmiger Spieler zwei kurze Einsätze in der deutschen<br />
Nationalmannschaft. Der Bremer und frühere Schalker<br />
Mesut Özil wurde U19- und U21-Auswahlspieler, und der<br />
Stuttgarter Serdar Tasci hat es inzwischen auf vier Länderspiele<br />
gebracht. Andere Spieler werden folgen. Und Gül<br />
Keskinler weiß: "Die Jungs identifizieren sich mit der deutschen<br />
Nationalmannschaft und sind stolz darauf, dort zu<br />
spielen. Wir brauchen solche Vorbilder." Als Zugpferde der<br />
Integration.