WURZELN Einem christlichen Jugendverein, dem 1903 gegründeten "Männer- und Jünglingsverein Wartburg", entstammte auch der Begründer der <strong>Essen</strong>er Arbeiterjugendbewegung, der Mechanikerlehrling Heinrich Rabbich. Im Juli 1905 war Rabbich, dessen Vater Sozialdemokrat und dessen Mutter im evan- gelischen Milieu verwurzelt war, wegen "unanständigen Betragens" aus dem Verein ausgeschlossen worden, weil er sich an einem Festumzug des Arbeiter-Sängerbundes in <strong>Essen</strong> beteiligt hatte. DIE ESSENER ARBEITERJUGEND- BEWEGUNG IM KAISERREICH
Von Frank Bajohr Aus Solidarität erklärten daraufhin mehrere Freunde und ehemalige Schulkameraden Rabbichs ihren Austritt aus dem Verein. In einem Interview beschrieb Heinrich Rabbich die damalige Situation mit folgenden Worten: "Ich sag zum Vater: 'Ja, was nu? Was sollen wir machen?' 'Sprechen wir mal, gehen wir mal zur Partei.' Und dann sind wir zur Partei gegangen, und ich habe denen meine Nöte vorgetragen und auch meine Ansichten, was zu tun sei, und ... es fiel auf guten Boden dort unser Gespräch, die Gewerkschaften wurden hinzugezogen, das Gewerkschaftskartell ... und so wurde denn eine Versammlung anberaumt, eine öffentliche Versammlung, wir haben die notwendigen Handzettel an all den Betrieben, wo besonders viele Jugendliche arbeiteten, verteilt. Wir hatten da in <strong>Essen</strong> ja eine ganze Reihe solcher Lehrlingsquetschen, wie wir sie nannten, und die Versammlung, der Chefredakteur von der damaligen 'Arbeiterzeitung' Heinrich Limbertz, der hat das Referat gehalten, sehr gut. Na, kurz und gut, es waren 82 Mitglieder, Neulinge, die sich für den Verein meldeten." Die Gründungsversammlung des "Vereins für Lehrlinge und jugendliche Arbeiter" soll angeblich am 13. Juli 1905 stattgefunden haben, doch liegen für die Gründung, ja die Existenz des Vereins überhaupt außer den Lebenserinnerungen Rabbichs keinerlei Quellenbelege vor. Andere Erinnerungsberichte datieren hingegen die Gründung der <strong>Essen</strong>er Arbeiterjugendbewegung übereinstimmend auf das Jahr 1907. Nahm bereits in den Erinnerungen Rabbichs die sozialdemokratische Partei eine zentrale Rolle im Konstituierungsprozess der Arbeiterjugendbewegung ein, so geht diese aus den sonstigen verfügbaren Quellen noch deutlicher hervor: Am 10. Juli 1907 gründete sich unter dem Vorsitz des SPD-Parteisekretärs Rudolf Bühler der "Arbeiterbildungsausschuß <strong>Essen</strong>-Ruhr", der sich statuarisch zur "Veranstaltung von Unterrichtskursen, geselligen Zusammenkünften, Spaziergängen und Ausflügen unter besonderer Berücksichtigung der schulentlassenen Jugend" verpflichtet hatte. Bereits vier Tage später, am 14. Juli 1907, fand "die erste Versammlung jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen" im Arbeiterlokal "Borussia" statt, in der Arbeitersekretär Heinrich Limbertz zum Thema "Das Recht der Jugend auf Bildung und Lebensgenuß" referierte. In einem eigens herausgegebenen Flugblatt warben die Sozialdemokraten für den Zusammenschluss der Arbeiterjugendlichen, um ihren "Anspruch auf Freude und Fröhlichkeit, auf allseitige harmonische Ausbildung guter Charaktereigenschaften" durchzusetzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Jugendfrage in der Politik der <strong>Essen</strong>er Sozialdemokratie nicht die geringste Rolle gespielt, abgesehen von gelegentlichen Warnungen der Parteipresse vor der Agitationstätigkeit katholischer und nationalliberaler Jugendverbände, die um die Jahrhundertwende laut wurden. Die jugendpolitische Abstinenz der <strong>Essen</strong>er SPD erklärt sich insofern, als ein Großteil der sozialdemokratischen Mitglieder, Anhänger und Wähler aus jugendlichen und jungen Arbeitern bestand, die in der Sozialdemokratie den natürlichen Repräsentanten der jüngeren Arbeitergeneration im Ruhrgebiet sahen. Im Gegensatz zu anderen politischen Bewegungen und Parteien besaß die <strong>Essen</strong>er Sozialdemokratie kein Mobilisierungsdefizit in der jüngeren Generation und damit auch kein politisches "Jugendproblem". Das Verhältnis der <strong>Essen</strong>er Arbeiterjugendbewegung zu ihren "erwachsenen" Genossen zeichnete sich daher durch das Fehlen jeglicher Generationsspannungen sowie durch einen Mangel an eigenständigen politischen Profilierungsmöglichkeiten für die Arbeiterjugendlichen aus. Erinnerungsberichte betonen daher das gute Einvernehmen zwischen Partei und Arbeiterjugend, die rückblickend auch als "Rekrutenschule"" der Sozialdemokratie bezeichnet wurde. Angesichts der bestehenden vereinsrechtlichen Restriktionen konstituierte sich die <strong>Essen</strong>er Arbeiterjugendbewegung unter Verzicht auf festgefügte Organisationsstrukturen als lockerer Abonnentenzirkel der Zeitschrift "Die arbeitende Jugend", des offiziellen Organs der sogenannten "norddeutschen" Richtung der Arbeiterjugendbewegung. Bis zum Jahre 1912 wuchs die Zahl der Abonnenten auf 650 an. Damit war die <strong>Essen</strong>er Arbeiterjugendbewegung vorübergehend die mitgliederstärkste im Ruhrgebiet, organisierte und repräsentierte jedoch gleichzeitig nur eine kleine Minderheit (2 %) der Arbeiterjugendlichen in <strong>Essen</strong>. Bildung und Freizeit Die Auseinandersetzung mit sozialen Problemen, der Kampf für einen verbesserten Jugendschutz sowie die ökonomische, soziale und politische Interessenvertretung der arbeitenden Jugendlichen gelten gewöhnlich als spezifische und konstitutive Merkmale der Arbeiterjugendbewegung vor allem im Vergleich zur bürgerlichen Jugendbewegung. Gewichtet man jedoch den Stellenwert sozialpolitischer Fragen in der Tätigkeit von Arbeiterjugendgruppen, so gelangt man - nicht nur bezogen auf <strong>Essen</strong> zu einem ernüchternden Ergebnis. Bereits der Gründungsaufruf der <strong>Essen</strong>er Arbeiterjugendbewegung aus dem Jahre 1907 betonte unter Verzicht auf sozialpolitische Aktivitäten vor allem den Anspruch der Jugendlichen auf "Freude und Fröhlichkeit", "vorteilhafte Ausbildung an Geist und Körper" und "harmonische Allgemeinbildung als Grundstein guter Charakterbildung". Dem hier formulierten Bildungsanspruch versuchte die <strong>Essen</strong>er Arbeiterjugend vor allem durch Vortragsveranstaltungen gerecht zu werden, die zumeist an Sonntagnachmittagen im sogenannten "Jugendheim" - dem Bibliothekszimmer der SPD-Parteizentrale - durchgeführt <strong>EINMAL</strong> <strong>FALKE</strong> - <strong>IMMER</strong> <strong>FALKE</strong> 13