Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
Favelaarbeit<br />
Von Ute Craemer<br />
Sieh was es gibt: Gefängnis und Folterung,<br />
Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt, den körperlosen<br />
Schmerz und die<br />
Angst, die das Leben meint.<br />
Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde<br />
Und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die<br />
Bestürzung.<br />
Alles, was geschieht, geht dich an.<br />
Guenter Gleich<br />
Einleitung<br />
Monte Azul ist ein Sozialwerk, das seit etwa vierzig Jahren<br />
in verschiedenen brasilianischen Slums arbeitet und<br />
Programme für Erziehung, Gesundheit, Ausbildung, Kultur,<br />
Umweltschutz, Heilpädagogik und Sozialtherapie,<br />
biologisch-dynamischen Anbau sowie Geburtsvorsorge<br />
und -hilfe entwickelt hat. Mit den Angeboten der Waldorfschule,<br />
den Kindertagesstätten, der Musikschule,<br />
dem Geburtshaus, den Werkstätten und den heilpädagogischen<br />
und sozialtherapeutischen Tageszentren erreicht<br />
Monte Azul inzwischen zirka 15.000 Menschen,<br />
daneben umfasst es ein Gesundheitsfamilienprogramm<br />
für annähernd 300.000 Menschen. Die Grundlage dieser<br />
Arbeit sind die Quellen der Anthroposophie und das<br />
Zusammenleben und -arbeiten der Menschen aus den<br />
Randgebieten São Paulos.<br />
Ich – Wir – Favelas: Brasilien<br />
Wie gestalten sich diese Beziehungen untereinander –<br />
das möchte ich anhand meiner Erfahrungen in diesem<br />
Geflecht der Favelaarbeit in der zwanzig Millionen umfassenden<br />
Megalopolis São Paulo schildern, in einem noch<br />
nicht lange von europäischem Kolonialismus und Sklaverei<br />
befreiten Land.<br />
Hierzu ein Bild: São Paulo, das ist ein Moloch von Zement,<br />
Glas und Plastik, hypermodernen Bürogebäuden<br />
und nie endendem Verkehr. Motorräder rasen im Slalomlauf<br />
auf den Strassen, Ströme von Arbeitern sitzen<br />
in überfüllten Bussen, Villen reihen sich an Favelas, daneben<br />
stehen Wolkenkratzer mit Swimmingpools und<br />
Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach, Wohnungslose<br />
campieren in Unterführungen; und über all dem die<br />
Dunstglocke aus Staub, Russ und Abgasen …<br />
Nur das? Nein, da leben Menschen, deren Hauptziel es<br />
ist zu leben, zu singen, zu sein. Nur das? Nein, Jugendliche,<br />
die angesichts ihrer Drogenschulden aus Angst rauben,<br />
es gibt viel Angst auf allen Seiten, Paniksyndrom,<br />
Depressionen … Kein Ausweg? DOCH: die «cultural creatives»,<br />
die Sozialinitiativen, die Musik-, Theater- und<br />
Graffitigruppen und vieles mehr.<br />
Anthroposophische Initiativen und Lebensfelder breiten<br />
sich aus<br />
Inmitten dieser cultural creatives, des sogenannten<br />
Dritten Sektors, wachsen die Lebensfelder der Anthroposophie<br />
und werden getragen und gestaltet von<br />
Heilpädagogen, Waldorflehrern, Ärzten, Therapeuten,<br />
Beratern, biologisch-dynamischen Landwirten, Studiengruppen<br />
und der anthroposophische Gesellschaft.<br />
Bereits zu Lebzeiten Rudolf Steiners gab es eine Studiengruppe<br />
in Brasilien, doch ausschlaggebend für die<br />
erstaunliche Verbreitung der anthroposophischen Initiativen<br />
war wohl die Gründung der ersten Waldorfschule<br />
in São Paulo im Jahr 1956. Damit wurde ein Tor geöffnet,<br />
durch das die Waldorfpädagogik in Brasilien seinen<br />
Eingang fand. Ein Jahrzehnt später wurden die ersten<br />
Samen der Heilpädagogik gesät.<br />
Ein zweites Tor konnte sich angesichts der Verbreitung<br />
der Waldorfpädagogik und anthroposophisch erweiterten<br />
Medizin für am Rande der Gesellschaft stehende<br />
Menschen öffnen (1979).<br />
Schon seit Anfang dieser Arbeit konnten in den Kinderkrippen<br />
auch schwer behinderte Kinder aufgenommen<br />
werden, die rührend von den «Krippenmüttern»<br />
gepflegt und versorgt wurden. Mit zunehmenden Alter<br />
154