Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
You also want an ePaper? Increase the reach of your titles
YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.
Beiträge | Contributions<br />
Konsequenzen<br />
Will die anthroposophische Sozialtherapie diesen Entwicklungen<br />
gerecht werden, ergeben sich für sie unmittelbar<br />
Konsequenzen:<br />
Sie ist einerseits aufgefordert, die Tatsache der Individualisierung<br />
aller Beteiligten zu respektieren und<br />
konzeptionell einzubeziehen. Es geht dabei in den Gemeinschaften<br />
um eine weitere Differenzierung ihrer<br />
Angebote in Wohnen, Arbeit und Kultur und darum, Alternativen<br />
für unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche<br />
und Notwendigkeiten anbieten zu können.<br />
Zum anderen besteht die Aufgabe, den veränderten Lebensumständen<br />
Rechnung zu tragen und ihre Mitglieder<br />
auch als Zeitgenossen zu verstehen, in besonderem<br />
Masse die jüngeren Menschen, die die Gemeinschaften<br />
in die Zukunft führen werden.<br />
Der bleibende Auftrag sozialtherapeutischer Gemeinschaften<br />
Zumal in einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Ansichten<br />
und Meinungen immer schneller wandeln, Hilfekonzepte<br />
in Mode kommen und wieder vergehen, scheint<br />
es mir geboten, nach den Grundlagen der menschlichen<br />
Existenz zu fragen und davon ausgehend Sozialtherapie<br />
zu denken. Auf welche grundlegenden, für die Sozialtherapie<br />
relevanten Bedingungen hat diese zu antworten?<br />
Die Frage der existenziellen Bedürftigkeit und Angewiesenheit<br />
Menschen haben grundlegende Bedürfnisse nach Bindung<br />
und Sicherheit einerseits, nach Autonomie und<br />
Freiheit andererseits. Man ist existenziell auf andere angewiesen<br />
und bleibt es Zeit seines Lebens. Man strebt<br />
zugleich danach, diese Abhängigkeiten, so gut es geht,<br />
zu überwinden. Selbstbestimmung ermöglicht es dem<br />
mündigen Menschen, ein Leben gemäss den eigenen Intentionen<br />
und Wünschen zu führen. Ebenso wichtig bleiben<br />
aber die sozialen Bindungen, die dem Leben Sinn,<br />
Schutz und Ausrichtung verleihen. In sicheren Bindungen<br />
und an sicheren Orten erfahren Menschen Geborgenheit,<br />
Heimat, Zuhause. In der Auseinandersetzung<br />
zwischen beiden Polen entwickelt sich die Persönlichkeit<br />
eines Menschen im Laufe seiner Biografie.<br />
In der fachlichen bzw. politischen Diskussion zur aktuellen<br />
Behindertenhilfe überwiegt häufig die Forderung<br />
nach Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen<br />
mit Behinderung. Wird diese Forderung verkürzt, so wird<br />
sie dem Hilfebedürftigen gerade nicht gerecht. Weil es<br />
ebenso um Bindung und Sicherheit geht, braucht es in<br />
der Sozialtherapie nach wie vor auch Begleitung und Betreuung,<br />
Orientierung und Sicherheit, die eine Gemeinschaft<br />
geben kann. Dies umso mehr, als in modernen<br />
Gesellschaften Leistungsdruck, Beschleunigung, Digitalisierung,<br />
zunehmende Komplexität und Anonymität<br />
der Lebenswelten viele Menschen mit Behinderungen<br />
überfordern und sie dadurch hilfloser machen, anstatt<br />
zu emanzipieren.<br />
Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft<br />
Als genuin soziale Wesen brauchen Menschen Beziehungen<br />
zu anderen Menschen in verschiedenen Qualitäten:<br />
Zweisamkeit, Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft<br />
und Welt. Dabei ist Gemeinschaft als derjenige soziale<br />
Kontext zu verstehen, in dem Menschen einander kennen,<br />
sich vertraut sind und untereinander Beziehungen<br />
pflegen. Als Lebens- und Beziehungsraum muss<br />
Gemeinschaft, um dem Einzelnen gerecht zu werden,<br />
heute mehr denn je seine Individualisierung wie auch<br />
seine Vergesellschaftung mit einschliessen. Aber ohne<br />
Gemeinschaft kann Individualisierung zu Vereinsamung<br />
und Vergesellschaftung zu Vermassung führen.<br />
Dimensionen des Hilfebedarfs<br />
Was brauchen Menschen mit einer kognitiven Behinderung?<br />
Zunächst alles, was jeder Mensch braucht, aber<br />
mit einer Unterstützung, die ihren kognitiven Hilfebedarf<br />
kompensiert. Weil Menschsein nicht nur Entwicklung<br />
zur Autonomie ist, sondern soziale Bezüge lebensnotwendig<br />
sind, braucht es zumindest Unterstützung zur<br />
Sozialfähigkeit. Werden darüber hinaus durch eine Gemeinschaft<br />
selbst Beziehungen angeboten, so kann das<br />
wesentlich zur Lebensqualität beitragen. Sozialtherapeutische<br />
Aufgaben bestehen in dieser Hinsicht in:<br />
• Hilfe zur Selbstbestimmung: Das heisst Hilfe, sich<br />
selbst wahrzunehmen, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche<br />
und Ängste zu erkennen und ihre Bedeutung zu<br />
verstehen. Es geht darum, zu helfen, den eigenen Bedürfnissen<br />
Geltung zu verschaffen, ggf. Alternativen aufzuzeigen<br />
und anzubieten. Es geht um Integrität im Sinne<br />
von ‹Selbst-sein-können›.<br />
• Hilfe zur Beziehung: Es geht um das Erlernen von gelingender<br />
Kommunikation und sozialen Kompetenzen, um<br />
die Regelung von Konflikten, das Üben von wertschätzenden<br />
und gegenseitigen Beziehungen.<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
189