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Seelenpflege 2016-3-4 Spezial

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Beiträge | Contributions<br />

Konsequenzen<br />

Will die anthroposophische Sozialtherapie diesen Entwicklungen<br />

gerecht werden, ergeben sich für sie unmittelbar<br />

Konsequenzen:<br />

Sie ist einerseits aufgefordert, die Tatsache der Individualisierung<br />

aller Beteiligten zu respektieren und<br />

konzeptionell einzubeziehen. Es geht dabei in den Gemeinschaften<br />

um eine weitere Differenzierung ihrer<br />

Angebote in Wohnen, Arbeit und Kultur und darum, Alternativen<br />

für unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche<br />

und Notwendigkeiten anbieten zu können.<br />

Zum anderen besteht die Aufgabe, den veränderten Lebensumständen<br />

Rechnung zu tragen und ihre Mitglieder<br />

auch als Zeitgenossen zu verstehen, in besonderem<br />

Masse die jüngeren Menschen, die die Gemeinschaften<br />

in die Zukunft führen werden.<br />

Der bleibende Auftrag sozialtherapeutischer Gemeinschaften<br />

Zumal in einer Zeit, in der sich gesellschaftliche Ansichten<br />

und Meinungen immer schneller wandeln, Hilfekonzepte<br />

in Mode kommen und wieder vergehen, scheint<br />

es mir geboten, nach den Grundlagen der menschlichen<br />

Existenz zu fragen und davon ausgehend Sozialtherapie<br />

zu denken. Auf welche grundlegenden, für die Sozialtherapie<br />

relevanten Bedingungen hat diese zu antworten?<br />

Die Frage der existenziellen Bedürftigkeit und Angewiesenheit<br />

Menschen haben grundlegende Bedürfnisse nach Bindung<br />

und Sicherheit einerseits, nach Autonomie und<br />

Freiheit andererseits. Man ist existenziell auf andere angewiesen<br />

und bleibt es Zeit seines Lebens. Man strebt<br />

zugleich danach, diese Abhängigkeiten, so gut es geht,<br />

zu überwinden. Selbstbestimmung ermöglicht es dem<br />

mündigen Menschen, ein Leben gemäss den eigenen Intentionen<br />

und Wünschen zu führen. Ebenso wichtig bleiben<br />

aber die sozialen Bindungen, die dem Leben Sinn,<br />

Schutz und Ausrichtung verleihen. In sicheren Bindungen<br />

und an sicheren Orten erfahren Menschen Geborgenheit,<br />

Heimat, Zuhause. In der Auseinandersetzung<br />

zwischen beiden Polen entwickelt sich die Persönlichkeit<br />

eines Menschen im Laufe seiner Biografie.<br />

In der fachlichen bzw. politischen Diskussion zur aktuellen<br />

Behindertenhilfe überwiegt häufig die Forderung<br />

nach Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen<br />

mit Behinderung. Wird diese Forderung verkürzt, so wird<br />

sie dem Hilfebedürftigen gerade nicht gerecht. Weil es<br />

ebenso um Bindung und Sicherheit geht, braucht es in<br />

der Sozialtherapie nach wie vor auch Begleitung und Betreuung,<br />

Orientierung und Sicherheit, die eine Gemeinschaft<br />

geben kann. Dies umso mehr, als in modernen<br />

Gesellschaften Leistungsdruck, Beschleunigung, Digitalisierung,<br />

zunehmende Komplexität und Anonymität<br />

der Lebenswelten viele Menschen mit Behinderungen<br />

überfordern und sie dadurch hilfloser machen, anstatt<br />

zu emanzipieren.<br />

Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft<br />

Als genuin soziale Wesen brauchen Menschen Beziehungen<br />

zu anderen Menschen in verschiedenen Qualitäten:<br />

Zweisamkeit, Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft<br />

und Welt. Dabei ist Gemeinschaft als derjenige soziale<br />

Kontext zu verstehen, in dem Menschen einander kennen,<br />

sich vertraut sind und untereinander Beziehungen<br />

pflegen. Als Lebens- und Beziehungsraum muss<br />

Gemeinschaft, um dem Einzelnen gerecht zu werden,<br />

heute mehr denn je seine Individualisierung wie auch<br />

seine Vergesellschaftung mit einschliessen. Aber ohne<br />

Gemeinschaft kann Individualisierung zu Vereinsamung<br />

und Vergesellschaftung zu Vermassung führen.<br />

Dimensionen des Hilfebedarfs<br />

Was brauchen Menschen mit einer kognitiven Behinderung?<br />

Zunächst alles, was jeder Mensch braucht, aber<br />

mit einer Unterstützung, die ihren kognitiven Hilfebedarf<br />

kompensiert. Weil Menschsein nicht nur Entwicklung<br />

zur Autonomie ist, sondern soziale Bezüge lebensnotwendig<br />

sind, braucht es zumindest Unterstützung zur<br />

Sozialfähigkeit. Werden darüber hinaus durch eine Gemeinschaft<br />

selbst Beziehungen angeboten, so kann das<br />

wesentlich zur Lebensqualität beitragen. Sozialtherapeutische<br />

Aufgaben bestehen in dieser Hinsicht in:<br />

• Hilfe zur Selbstbestimmung: Das heisst Hilfe, sich<br />

selbst wahrzunehmen, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche<br />

und Ängste zu erkennen und ihre Bedeutung zu<br />

verstehen. Es geht darum, zu helfen, den eigenen Bedürfnissen<br />

Geltung zu verschaffen, ggf. Alternativen aufzuzeigen<br />

und anzubieten. Es geht um Integrität im Sinne<br />

von ‹Selbst-sein-können›.<br />

• Hilfe zur Beziehung: Es geht um das Erlernen von gelingender<br />

Kommunikation und sozialen Kompetenzen, um<br />

die Regelung von Konflikten, das Üben von wertschätzenden<br />

und gegenseitigen Beziehungen.<br />

Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />

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