Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
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Beiträge | Contributions<br />
«… Weltenwesenslicht dem eigenen «Ich» zu freiem Wollen<br />
schenken» (R. Steiner 1924/1963).<br />
5.<br />
Ein weiterer und dritter Aspekt findet sich in der Art<br />
und Weise, wie sich das «Ich» im Denken erlebt. Der<br />
Mensch hat den Schritt zu seinem Tagesbewusstsein<br />
und zum Erleben seines «symptomatischen» oder<br />
niederen «Ich» mit dem Verlust seines früheren ursprünglichen<br />
geistigen Erlebens erkauft. So richtete<br />
sich sein Denken und Handeln vorwiegend auf die gegebene<br />
physische Sinneswelt. Von diesem Standpunkt<br />
aus musste er versuchen, die Fragen und Rätsel seiner<br />
Existenz zu lösen. In dieser Situation liegt der historische<br />
Schritt und die Chance zur Freiheitsentwicklung<br />
des Menschen. Die Wendung zur Sinneswelt bedeutet<br />
den Verlust der früheren unmittelbaren Verbindung zur<br />
geistigen Welt und des Bewusstseins des nicht verkörperten,<br />
höheren «Ich» als Wesenskern. Damit ist der<br />
Mensch mit dem Beginn der Neuzeit auf sich selbst<br />
gestellt. Das ist indes die Bedingung für die Entwicklung<br />
von Freiheit und Verantwortung. Sergej Prokofieff<br />
hat diesen Gedanken in einer Untersuchung über den<br />
«Ich»-Begriff der Anthroposophie aufgegriffen, indem<br />
er auf die Bedeutung des Lebens auf der Erde hinwies:<br />
«Diesen Prozess kann der Mensch nur auf der<br />
Erde, aus seinem Erden-Ich beginnen und ausführen.<br />
Denn allein in ihm kann die menschliche Freiheit als<br />
eine entscheidende Bedingung … erlebt und daraufhin<br />
in die weitere Entfaltung des höheren Selbstes mitgenommen<br />
werden» und fügt Steiner im Wortlaut an:<br />
«Das ist derjenige, der sein höheres Selbst ausgebildet<br />
hat. Hier in dieser physischen Welt ist die Ausbildungsstätte»<br />
(Prokofieff 2010, S. 43).<br />
Damit befindet sich der Mensch in einer historischen<br />
Verantwortungssituation, in der er sich mit dem Bösen<br />
als Bedingung der Freiheit auseinandersetzen muss.<br />
Denn Entwicklung zur Freiheit ist nicht denkbar ohne<br />
die Notwendigkeit und Möglichkeit zu wählen und ohne<br />
in sich selbst die Gegenkräfte gegen Unwahrheit, Ignoranz,<br />
Egoismus, Verletzung und Zerstörung zu entwickeln.<br />
Nicht Gott trägt die Schuld für dasjenige, was auf<br />
der Erde geschieht, sondern Menschen. Diese Tatsache<br />
liegt fortan als Schatten über dem Leben jedes Menschen<br />
und seinem Handlungsfeld.<br />
Steiners dritte Übung, die in dem genannten Meditationsspruch<br />
des «Grundsteins» entwickelt ist, weist<br />
auf diesen Entwicklungsweg zur Freiheit hin. Das meditative<br />
Denken ermöglicht, sich über das an die<br />
Sinnestätigkeit gebundene Denken hinaus mit dem Gedankenwesen<br />
der Welt zu verbinden und an ihm teilzuhaben<br />
– womöglich nur anfänglich und zart. In welcher<br />
Art der Mensch diese Gedanken anwendet, wofür er sie<br />
einsetzt, ist keine unmittelbare Folge des Erlebens dieser<br />
Gedanken, sondern offen: zwischen Erkenntnis und<br />
Handlung liegt die Entscheidung des Menschen. Freiheit<br />
beginnt dort, wo der Mensch in die Verantwortung<br />
für sein Denken und Handeln eintritt.<br />
Der amerikanische Philosoph Matthew Crawford hat in<br />
seinem Buch «Die Wiedergewinnung des Wirklichen»<br />
darauf hingewiesen, dass «echte Handlungsmacht»<br />
nicht auf einem Willkürakt beruhen könne, «sondern<br />
paradoxerweise auf der Unterwerfung unter Dinge, die<br />
ihr eigenes, unergründliches Wesen haben, ob dieses<br />
Ding nun ein Musikinstrument, ein Garten oder eine<br />
Brücke ist» (Crawford <strong>2016</strong>, S. 44–45). Es sei der «situierte»<br />
Mensch, der sich in seiner Verkörpertheit, seiner<br />
zutiefst sozialen Natur und in dem bestimmten<br />
historischen Moment, in dem er lebe, vorfinde (ebd.<br />
S. 48).<br />
Aus der Perspektive des «Heilpädagogischen Kurses»<br />
geht es in diesem Zusammenhang um die Gestaltung<br />
eines schöpferischen «Augenblicks», um situativ gelingendes<br />
Handeln in Lern- und Entwicklungsumgebungen,<br />
um die «heilpädagogische Intuition», wie sie<br />
weiter oben genannt wurde. Wo sie gelingt, ist sie ein<br />
Handlungsimpuls, der aus der Wahrnehmung des Kindes<br />
und der in ihm liegenden Möglichkeiten heraus<br />
entsteht und nicht Ergebnis eines Programms, Rezeptes<br />
oder gar persönlicher Willkür. Dieser Handlungsgestus<br />
kann auch als ein Prototyp für ein Handeln vom<br />
anderen her verstanden werden.<br />
Als «Willensbewegung» des «Ich» beginnt der dem Tagesbewusstsein<br />
nur teilweise zugängliche Prozess der<br />
Intuition mit der intensiven Aufmerksamkeit auf das<br />
Kind, als Moment einer authentischen Begegnung,<br />
die von aktiver Zuwendung und Interesse getragen ist.<br />
«Ein im Leben webendes Wissen vom Menschen nimmt<br />
das Wesen des Kindes auf wie das Auge die Farbe aufnimmt»,<br />
hatte Rudolf Steiner in einem Aufsatz über<br />
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