Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
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Die sozialtherapeutische Gemeinschaft – ein Auslauf- oder Zukunftsmodell?<br />
Von Stefan Siegel-Holz<br />
Einleitung<br />
Nüchtern betrachtet trifft man nicht mehr an vielen Orten<br />
auf die ‹klassische› sozialtherapeutische Gemeinschaft<br />
– was auch immer man darunter verstehen mag. Ist die<br />
Form der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Menschen<br />
mit und ohne Behinderungen in eine bedrohliche<br />
Krise geraten? Dies gerade zu einem Zeitpunkt, wo<br />
das inklusive Miteinander im gesellschaftlichen Kontext<br />
idealisiert wird? Das wäre tatsächlich tragisch. Oder<br />
gehen die Gemeinschaften durch einen gesunden, notwendigen<br />
Umwandlungs- und Erneuerungsprozess,<br />
indem sie versuchen, mit den gesellschaftlichen Entwicklungen<br />
Schritt zu halten und zugleich ihren Mitgliedern<br />
gerecht zu werden?<br />
Wo stehen wir heute?<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Nie zuvor erlebte die Menschheit so gravierende gesellschaftliche<br />
Entwicklungen wie in den vergangenen Jahrzehnten.<br />
Seit den Anfängen der anthroposophischen<br />
Sozialtherapie haben sich die Lebensbedingungen so<br />
grundlegend gewandelt, dass ein direkter Vergleich mit<br />
heute unmöglich ist. Die technischen Entwicklungen<br />
haben völlig neue Dimensionen des individuellen und<br />
sozialen Lebens erschlossen. Wir sind weltweit digital<br />
vernetzt und dennoch einsamer geworden. Das Wissen<br />
über Krankheitsbilder und therapeutische Möglichkeiten<br />
hat sich immens erweitert. Menschen mit Behinderungen<br />
haben ein anderes Ansehen in der Gesellschaft<br />
erlangt. Sichtbarer Ausdruck dessen ist das «Internationale<br />
Übereinkommen über die Rechte von Menschen<br />
mit Behinderungen», kurz UN-BRK, die von der UNO-Generalversammlung<br />
am 13.12.2006 verabschiedet und<br />
seitdem von den meisten Staaten unterzeichnet und ratifiziert<br />
wurde.<br />
Die UN-BRK ist ein Meilenstein in der Anerkennung der<br />
allgemeinen Würde des Menschen mit Behinderung. Ihr<br />
gegenüber stehen allerdings drei grosse Herausforderungen<br />
für die Behindertenhilfe: ihre Verrechtlichung,<br />
ihre Ökonomisierung und ihre Ideologisierung.<br />
• Verrechtlichung: In den letzten Jahrzehnten hatte die<br />
Behindertenhilfe in vielen Ländern mit einer zunehmenden<br />
Flut von Gesetzen, Verordnungen und Auflagen<br />
zu tun. Vorschriften zur Dokumentation und<br />
Qualitätssicherung beanspruchen inzwischen viel Aufmerksamkeit.<br />
Das Korsett, in dem sich Einrichtungen<br />
heute bewegen, ist vielerorts durch Regulierung und<br />
Bürokratisierung sehr eng geworden.<br />
• Ökonomisierung: In zahlreichen Ländern, insbesondere<br />
den Industrienationen, werden heute mehr oder weniger<br />
auskömmliche Geldmittel an die Einrichtungen<br />
der Behindertenhilfe gezahlt, damit diese ihren Auftrag<br />
erfüllen können. Allerdings werden diese Gelder eng an<br />
die genaue Erfüllung konkreter Standards gekoppelt.<br />
Die Ökonomie gibt heute vor, welche Hilfe wie und in<br />
welchem Umfang geleistet werden soll.<br />
• Ideologisierung: Ein Mensch mit Behinderung wird<br />
heute, glücklicherweise, weniger als Empfänger von be-<br />
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