Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
Create successful ePaper yourself
Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.
Beiträge | Contributions<br />
chen für Typ D (desorganisiert) sind Misshandlungen, aber<br />
auch anderes beängstigendes Verhalten, z.B. aufgrund von<br />
Flashbacks selbst traumatisierter Eltern (Lyons-Ruth & Jacobvitz<br />
<strong>2016</strong>). Daraus lässt sich schliessen, dass Kinder in<br />
Abhängigkeit von dem Verhalten der jeweiligen Bezugspersonen<br />
unterschiedliche Bindungsmuster entwickeln (Lyons-Ruth<br />
& Jacobvitz <strong>2016</strong>). Kinder binden sich aufgrund<br />
der überlebenssichernden Funktion des Bindungsverhaltenssystems<br />
immer an ihre Bezugspersonen – auch wenn<br />
deren Verhalten bedrohlich, verwirrend oder beängstigend<br />
ist. Im Extremfall kommt es zu Bindungsstörungen im Kindesalter.<br />
Aber auch viele erst später auftretende Verhaltensauffälligkeiten<br />
und psychische Störungen stehen in<br />
Zusammenhang mit Bindungserfahrungen (Brisch 2002,<br />
2013; Holmes, 2012) und unsichere Bindungsmuster korrelieren<br />
mit Gesundheitsproblemen im Erwachsenenalter<br />
(Vaughn & Bost <strong>2016</strong>). Sichere Bindungsmuster hingegen<br />
gelten als Schutzfaktor für die Entwicklung über die<br />
Lebensspanne (Brisch 2004). In der Kindheit erworbene<br />
Bindungsmuster sind stabil, wenn sie nicht durch später<br />
gemachte positive oder negative Erfahrungen beeinflusst<br />
werden; dabei können sich sowohl sichere Muster zu unsicheren<br />
verändern als auch umgekehrt (Grossmann &<br />
Grossmann 2012).<br />
Fühlen lernen durch Affektspiegelung<br />
Eine besondere Rolle spielt der Umgang der Bezugsperson<br />
mit den Gefühlsäusserungen des Kindes, da dieses<br />
nur geringe gefühlsregulierende Kompetenzen hat.<br />
Bereits in den 1960er Jahren wurde die Bedeutung des<br />
«Spiegelns» für die emotionale Entwicklung entdeckt<br />
(Winnicott 2008). Seit den 1990er Jahren konnte ein britisches<br />
Forscherteam zeigen, dass Eltern kindliche Gefühle<br />
durch Mimik, Stimmlage und Gestik «markieren»,<br />
d.h. sie leicht übertrieben – bei bedrohlichen Gefühlen<br />
auch abgeschwächt – wiedergeben. So erlebt das Kind<br />
seine Gefühle als real und ihm selbst zugehörig. Es lernt,<br />
zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden. Zugleich<br />
werden Gefühle reguliert und für das Kind bewältigbar.<br />
Weiterhin benennt die Bezugsperson durch das<br />
Eingehen auf die Gefühlsausdrücke des Kindes innere<br />
Zustände: Gefühle, Wünsche, später auch Absichten und<br />
Überzeugungen. Dies ist Grundlage für das «Mentalisieren»:<br />
Verhalten als Ausdruck von inneren Zuständen zu<br />
interpretieren, dabei eigene innere Zustände von denen<br />
anderer zu unterscheiden sowie Gefühle und Aussenwelt<br />
zu trennen (Fonagy, Gergely, Jurist & Target 2010).<br />
Zeitschrift <strong>Seelenpflege</strong> <strong>Spezial</strong> / <strong>2016</strong><br />
Diese wichtigen Entwicklungsschritte in der frühen Kindheit<br />
können durch ungenügendes oder unpassendes Affektspiegeln<br />
der Bezugsperson beeinträchtigt werden,<br />
z.B. wenn sie die Gefühle des Kindes ignoriert, sich von<br />
seinen Gefühlen überwältigen lässt oder zu sehr ihre eigenen<br />
Gefühle wiedergibt, statt die des Kindes zu markieren.<br />
Betroffene haben es dann schwer, ihre Gefühle<br />
von denen anderer zu unterscheiden. Diese Einschränkungen<br />
in Subjekt-Objekt-Differenzierung und Mentalisierungsfähigkeit<br />
begünstigen schwere psychische<br />
Störungen, insbesondere Borderline (Fonagy et al. 2010).<br />
Bindung vor dem Hintergrund von «Sympathie»<br />
und «Antipathie»<br />
Fraley & Spieker (2003) konnten zeigen, dass – trotz der<br />
letztlich von Ainsworth gewählten typologischen Darstellung<br />
– Bindungsverhalten wahrscheinlich eher als<br />
Kontinuum zu sehen ist; dafür spricht auch, dass mehrere<br />
Subtypen existieren, die jeweils Mischformen aus<br />
benachbarten Typen darstellen (Kissgen 2008). Die von<br />
Fraley & Spieker ermittelten Dimensionen sind Nähe suchen<br />
vs. Nähe vermeiden und Ärger/Widerstand zeigen<br />
vs. Ärger/Widerstand nicht zeigen. Im Folgenden beschränke<br />
ich mich auf erstere und stelle die Hypothese<br />
auf, dass sich die von Ainsworth entdeckten Bindungsverhaltensmodi<br />
in Beziehung zu der von Rudolf Steiner<br />
beschriebenen polaren Dynamik zwischen Sympathie<br />
und Antipathie (Steiner 1919) setzen lassen. (Tab. 1)<br />
Tab. 1<br />
Antipathie:<br />
Vorstellen<br />
Kopf, abschliessend<br />
Ich: zentrierend<br />
Fühlen<br />
Herz, ausgleichend<br />
Ich: vermittelnd<br />
Sympathie:<br />
Wollen<br />
Gliedmassen: öffnend<br />
Ich: peripher<br />
Nähe vermeiden Flexible Nähe Abhängige Nähe<br />
Bindung:<br />
unsicher-vermeidend (A)<br />
Bindung:<br />
sicher (B)<br />
Bindung:<br />
unsicher-verstrickt (C)<br />
Das Schwingen zwischen Sympathie und Antipathie<br />
sieht Steiner als Voraussetzung für den «Ich-Sinn» zur<br />
Wahrnehmung des Gegenübers als Individualität (Steiner<br />
1919). Ich gehe davon aus, dass Menschen mit unsicherem<br />
Bindungsverhalten in dieser Fähigkeit zunächst<br />
eingeschränkt sind, weil sie aufgrund des erlebten Mangels<br />
an Responsivität seitens ihrer Bezugspersonen sowohl<br />
zu sich selbst als auch zum Gegenüber ein wenig<br />
flexibles Verhältnis haben. Menschen mit vermeidendem<br />
Bindungsverhalten (A) beziehen sich demnach in<br />
einer antipathischen, einseitig mehr abschliessenden<br />
177