Seelenpflege 2016-3-4 Spezial
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Beiträge | Contributions<br />
Das «Ich» in Leib und Welt<br />
Aspekte zu seiner Entwicklung<br />
von Rüdiger Grimm<br />
Vor allem zu Beginn und am Ende der Vorträge über<br />
Heilpädagogik, die Rudolf Steiner im Sommer des Jahres<br />
1924 im Saal der «Schreinerei» am Goetheanum<br />
hielt, sprach er über weitreichende Entwicklungsfragen<br />
des menschlichen «Ich». Sie machen auf zentrale Aspekte<br />
der Arbeit im Feld der Heilpädagogik und Sozialtherapie<br />
aufmerksam. Darüber hinaus berühren sie<br />
Fragen der gegenwärtigen Entwicklung des Menschen<br />
und der Kultur. Ich habe im folgenden Text versucht, einige<br />
wenige von vielen möglichen Gesichtspunkten aus<br />
dem Werk Steiners, die diese Fragen weiter beleuchten<br />
können, zusammen zu stellen und sie mit anderen Ansätzen,<br />
in denen Aufschluss über die Entwicklung des<br />
«Ich» gesucht wird, in Beziehung zu setzen.<br />
«… dass der Mensch mit seiner irdisch-sinnlichen Natur nur<br />
als die Offenbarung dessen vor sich selber steht, was er in<br />
Wirklichkeit ist» (R. Steiner 1925/1998, S. 23).<br />
1.<br />
Der Mensch kann zu seinem eigenen «Ich» ein erlebendes<br />
und betrachtendes Verhältnis einnehmen. Er<br />
erlebt dann nicht nur sein eigenes Denken, Fühlen und<br />
Handeln, sondern er weiss, dass er denkt, fühlt und<br />
handelt und kann auf seine Gedanken, Gefühle und<br />
Handlungen Einfluss nehmen. Auf diesem reflexiven<br />
und zugleich selbstgestaltenden Prozess beruht sein<br />
Selbsterleben, das man als ein produktives Verhältnis<br />
des «Ich» zu sich selbst und zur Welt verstehen kann.<br />
Allerdings gehört diese Fähigkeit nicht zur Naturausstattung<br />
des Menschen, sie wird zwar zu einem Teil im<br />
Sozialisationsprozess erworben, aber ist in ihrem Kern<br />
eine individuell erworbene Fähigkeit. Durch sie wird<br />
deutlich, dass das «Ich» des Menschen sich in einem<br />
Entwicklungsprozess befindet. Indem das «Ich» in dieser<br />
Art von Selbstwirksamkeit auf sich selbst Einfluss<br />
nimmt, erweitert es sowohl den Radius seiner Selbstwahrnehmung<br />
als auch den der Wahrnehmung für das<br />
«Ich» anderer Menschen. Und es wird sich der Subtilität<br />
der eigenen Existenz bewusster. Denn obwohl die<br />
«Ich»-Erfahrung mit einem inneren Evidenzgefühl verbunden<br />
ist, bleibt zunächst im Dunkeln, was dieses<br />
«Ich» seinem Grunde nach ist und woher es stammt.<br />
Für die Heilpädagogik und Sozialtherapie ist diese<br />
Frage seit je von besonderer Bedeutung gewesen. Sehr<br />
oft trifft man in diesem Arbeitsfeld auf Kinder, Jugendliche<br />
und Erwachsene, die nur eingeschränkt über die<br />
landläufig mit «Ich»-Bewusstsein identifizierten Merkmale<br />
und Kompetenzen wie Kognition oder Sprache<br />
verfügen, die gleichwohl über eine starke Persönlichkeitswirkung,<br />
Originalität und Authentizität verfügen.<br />
In seinem Roman «Stiller», der zu den bedeutenden<br />
Zeugnissen des literarischen Schaffens im 20. Jahrhundert<br />
gehört, stellt sein Autor Max Frisch die Frage, wer<br />
hinter den Erfahrungen und Vorstellungen, die einen<br />
Menschen auszumachen scheinen, steht. So sagt eine<br />
der Protagonistinnen: «– nicht umsonst heisst es in<br />
den Geboten: du sollst dir kein Bildnis machen … Wenn<br />
man einen Menschen liebt, so lässt man ihm doch jede<br />
Möglichkeit offen und ist trotz aller Erinnerungen einfach<br />
bereit, zu staunen, immer wieder zu staunen,<br />
wie der andere ist … nicht ein fertiges Bildnis» (Frisch<br />
1954). Der Mann Stiller ist einer, der sich nicht mehr<br />
zu seinem Leben bekennen, nicht aufgehen will in den<br />
Erwartungen, die andere an ihn hegen. Der frei werden<br />
will von dem Bild, das er von sich selbst und andere<br />
von ihm gemacht haben, dem er aber lediglich eine<br />
andere Fiktion entgegensetzen kann: «Stillers Biographie<br />
besteht aus Projektionen seiner Umgebung, Mister<br />
Whites Biographie (sein von ihm ausgedachtes<br />
alter ego, Anm. R.G.) aus dessen Geschichten und Rollen,<br />
die er spielt. Weder im einen noch im anderen Fall<br />
196