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Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 01/2013

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Nicht ganz ernst gemeint<br />

Der erste Brief an den Staatsbürger<br />

Jedes Kind eine Nummer: Wie das Finanzamt<br />

ein Baby begrüût<br />

Man ist ja auf den Knien seines Herzens, wenn so ein Neugeborenes<br />

da und gesund ist, alles dran, alles perfekt, sogar zwanzig<br />

winzig kleine, wohlpositionierte Finger und Fuûnägelchen.Und<br />

wie sich dann nach und nach <strong>der</strong> Bau- und Lehrplan zur Menschwerdung<br />

erfüllt.Wie das Kind alles irgendwann einmal zum ersten<br />

Mal kann und macht.Ein Wun<strong>der</strong>.<br />

Mama und Papa schreiben solche Daten und Ereignisse in sehr<br />

schöne Baby-Bücher und schicken den Groûeltern Fotonachrichten<br />

von diesen kleinen, festlichen Momenten: Zum ersten Mal an<br />

Papas Finger gesaugt.Zum ersten Mal nach <strong>der</strong> Rassel gegriffen.<br />

Heute sind seine Augen zum ersten Mal Mamas Hand hin und her<br />

gefolgt.Das erste Lachen.Das erste Kopfheben.Zum ersten Mal<br />

Musik hören.Zum ersten Mal nachts fünf Stunden durchgeschlafen.Der<br />

erste Brief.<br />

Der erste Brief kommt heutzutage schon in das Glück <strong>der</strong> vierten<br />

Lebenswoche hinein.Er kommt ± hurra ± mit vollständigem und<br />

korrekten Namen des Kindes, an seine richtige Adresse und ist:<br />

eine Enttäuschung.Vom ¹Bundeszentralamt <strong>für</strong> Steuernª.Betreff:<br />

¹Zuteilung <strong>der</strong> Identifikationsnummer nach § 139b <strong>der</strong> Abgabenordnung<br />

(AO)ª.<br />

Das Baby wird in diesem Brief hoheitlich gesiezt.Und <strong>der</strong> Text<br />

geht so: ¹Sehr geehrter Herr, das Bundesamt <strong>für</strong> Steuern hat Ihnen<br />

die Identifikationsnummer 98256135718 zugeteilt.Sie wird<br />

<strong>für</strong> steuerliche Zwecke verwendet und ist lebenslang gültig.Sie<br />

werden daher gebeten, dieses Schreiben aufzubewahren, auch<br />

wenn Sie <strong>der</strong>zeit steuerlich nicht geführt werden sollten.Bitte geben<br />

Sie Ihre Identifikationsnummer bei Anträgen, Erklärungen und<br />

<strong>Mitteilungen</strong> zur Einkommen-/Lohnsteuer gegenüber Finanzbehörden<br />

immer an.Bitte geben Sie vorerst Ihre Steuernummer zusätzlich<br />

zur mitgeteilten Identifikationsnummer an ¼ Beachten<br />

Sie auch die Hinweise auf <strong>der</strong> Rückseite dieses Schreibens ¼<br />

Mit freundlichen Grüûen.Ihr Bundeszentralamt <strong>für</strong> Steuern.ª<br />

Der preuûische Obrigkeitsstaats-Tonfall soll<br />

wohl in die frühkindliche Prägung einflieûen<br />

Das ist, auch weil <strong>der</strong> sehr geehrte Herr noch gar nicht lesen<br />

kann, etwas albern und ungeschickt und eigentlich auch mit <strong>der</strong><br />

Würde des neugeborenen Menschen in einer aufgeklärten Zivilgesellschaft<br />

nicht wirklich vereinbar.Ein Missverständnis.<br />

Wenn sie wenigstens diese seltsame Idee, schon Neugeborene<br />

mit persönlichen Identifikationsnummern zu versehen, besser gestalten<br />

würden, ironischer, freundlicher, lebensnäher.Es wäre<br />

zum Beispiel ja schon etwas ganz an<strong>der</strong>es, wenn jedem Neugeborenen<br />

mit einer kleinen Urkunde vom Bundespräsidenten o<strong>der</strong><br />

wenigstens vom Innenministerium feierlich eine Nummer verliehen<br />

und es bei dieser Gelegenheit von seinem Staat im Leben<br />

und in <strong>der</strong> Bundesrepublik begrüût und willkommen geheiûen<br />

würde.<br />

Die Eltern lachen, sind sowieso anspruchslos bis zynisch, was<br />

das seltsame, und rein ökonomisch geprägte Verhältnis des aufgeblähten<br />

Fürsorgestaates zu seinen Bürgern angeht.Als wäre<br />

das Finanzamt die staatliche Instanz schlechthin.Als müsse<br />

schon ein Baby aufgeklärt werden über seine Staatsbedürftigkeit<br />

und die fatale, alles bestimmende Priorität von Finanzen und<br />

Ökonomie.Als müsse auch dieser preuûische Obrigkeitsstaats-<br />

Tonfall dringend schon in die frühkindliche Prägung aufgenommen<br />

werden.<br />

Und weil sie nicht sicher sind, wann das Baby zum ersten Mal<br />

Fettgedrucktes von Normaltext unterscheiden kann, kleben<br />

Mama und Papa den ersten Brief nicht in das Erste-Jahr-Buch,<br />

werfen ihn lieber in die ungeliebte Kiste, auf <strong>der</strong> ¹Steuerunterlagenª<br />

steht, und sagen: Alles gut, solange wenigstens keiner von<br />

uns verlangt, dass wir unserem Söhnchen die lebenslängliche<br />

Identifikationsnummer auf den Oberarm tätowieren lassen müssen.<br />

Und das Baby? Schreit.Laut.Sehr laut.Trainiert seine kleinen<br />

Lungen schon mal <strong>für</strong> die spätere Eignung und Verwendung als<br />

Wutbürger.<br />

Evelyn Roll<br />

Gegründet 1872<br />

Sitz Berlin<br />

Süddeutsche Zeitung, FEUILLETON, Dienstag, 25.September<br />

2<strong>01</strong>2, Bayern, Deutschland, München Seite 11<br />

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten ± Süddeutsche Zeitung<br />

GmbH, München, A52980899.<br />

Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über<br />

www.sz-content.de, svra039<br />

Deutsche <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> <strong>Chirurgie</strong> ± <strong>Mitteilungen</strong> 1/13 81

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