Psychotherapeutenjournal 3/2005 (.pdf)
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Leserbriefe<br />
rakterisiert werden kann. Der Therapiebedarf<br />
resultiert quasi aus der Behinderung<br />
selbst und dem Versuch ihrer Bewältigung<br />
durch die betroffene Person. Es gibt somit<br />
oft keinen überschaubaren Therapiezeitraum,<br />
in dem eine Heilung der Störung<br />
erreicht werden könnte, sondern es handelt<br />
sich meist um einen langjährigen,<br />
gewissermaßen lebensbegleitenden Prozess,<br />
der aber ohne psychotherapeutische<br />
Kompetenz nicht zu meistern ist.<br />
Ausgrenzung von erfahrenen<br />
Psychotherapeut/inn/en<br />
Ergänzend zu den Ausführungen von Frau<br />
Werther möchte ich hier eine Anregung<br />
machen: In vielen Einrichtungen für Menschen<br />
mit geistiger Behinderung arbeiten<br />
erfahrene Therapeut/inn/en. So lange es<br />
nicht gelingt, durch Berücksichtigung des<br />
besonderen Klientels der Menschen mit<br />
geistigen Behinderungen in der Ausbildung<br />
(Studium und Therapieausbildungen) ausreichend<br />
viele Praktiker/inn/en für eine<br />
ambulante Versorgung bereit zu stellen,<br />
wäre es eine gute Zwischenlösung, den<br />
angestellten Therapeut/inn/en in den Einrichtungen<br />
eine auf das spezielle Klientel<br />
begrenzte Ermächtigung zur Kassenabrechnung<br />
von Psychotherapie zu erteilen. Im<br />
Moment wird ein solches Ansinnen von<br />
den Kassenärztlichen Vereinigungen mit<br />
dem Hinweis auf die (scheinbare) Versorgungsdeckung<br />
und die Notwendigkeit von<br />
Weiterbildung auf Seiten der niedergelassenen<br />
Therapeut/inn/en abgeschmettert.<br />
Eine Lösung für die Betroffenen ist das<br />
jedenfalls nicht. Hier wäre auch das Engagement<br />
der Psychotherapeutenkammern<br />
gefragt.<br />
Tiefsitzende kollektive Abwehrprozesse<br />
und weitere Gründe<br />
Hier geht Frau Werther für meinen Geschmack<br />
doch etwas zu weit. Der Großteil<br />
der aktuell tätigen Therapeut/inn/en dürfte<br />
eher Einstellungen haben, die konträr<br />
zum geschichtlichen Erbe der Deutschen<br />
liegen. Meine Erfahrung ist, dass die Kolleg/inn/en<br />
die Annahme von Menschen<br />
mit geistigen Behinderungen ablehnen,<br />
weil sie sich den Anforderungen nicht gewachsen<br />
fühlen und es ethisch nicht verantworten<br />
wollen, ohne entsprechende<br />
Kompetenz „herumzupfuschen“. Hier<br />
schlägt sich das mangelnde oder fehlende<br />
Vorkommen der Menschen mit geistiger<br />
Behinderung in der universitären und therapeutischen<br />
Ausbildung nieder und nicht<br />
latente Euthanasiegedanken. Auch im folgenden<br />
Abschnitt zu Übertragungsproblemen<br />
geht die psychoanalytische Deutungslust<br />
mit der Autorin durch.<br />
Wenn dies alles gelten sollte, dann träfe<br />
es auf jeden Menschen mit psychischen<br />
Problemen zu. Wir arbeiten als Therapeut/<br />
inn/en doch immer in der Konfrontation<br />
mit eigenen Abgründen. Der Vergleich mit<br />
Menschen mit geistiger Behinderung liegt<br />
eher weniger nah als der mit anderen Klient/inn/en.<br />
Völlig richtig sind die Hinweise auf das<br />
Motivationsproblem. Es ist dringend erforderlich,<br />
dass psychotherapeutische Hilfen<br />
bekannt gemacht werden. Meine Erfahrung<br />
ist, dass bei guter Transparenz bzgl. des eigenen<br />
Arbeitens recht bald erste direkte<br />
Anfragen von Menschen mit geistiger Behinderung<br />
kommen. Die Zielklärung muss<br />
wie bei jeder anderen Therapie selbstverständlich<br />
erfolgen. Aufträge durch Dritte<br />
sollten aber nicht kategorisch abgelehnt und<br />
ausgeschlossen werden. Es gibt auch andere<br />
Klient/inn/en, die von selbst und ohne<br />
Anstoß von außen nicht in die Therapie finden<br />
(z. B. Menschen mit Suchtproblematik).<br />
Schlussbemerkung<br />
Trotz aller kritischer Bemerkungen: es ist<br />
hoch erfreulich, dass Frau Werther in so<br />
differenzierter Weise zu dem Thema Psychotherapie<br />
bei geistiger Behinderung Stellung<br />
nimmt und eine hoffentlich fruchtbare<br />
Diskussion angestoßen hat. Ihren Thesen<br />
und den Forderungen im Ausblick kann<br />
ich mich nur anschließen.<br />
Dipl.-Psych. Michael Kief (PP)<br />
Leiter des Psychologischen Fachdienstes<br />
Diakonie Stetten e.V.<br />
71386 Kernen i.R.<br />
michael.kief@diakonie-stetten.de<br />
Ein weiterer Beitrag zu Frauke Werther: „… Menschen<br />
mit geistiger Behinderung …“ PTJ 2/<strong>2005</strong><br />
Ich habe den Beitrag von Frauke Werther<br />
über Psychotherapiechancen geistig Behinderter<br />
zugleich mit Überraschung und<br />
Dankbarkeit gelesen darüber, dass eine<br />
solche Thematik überhaupt einmal angesprochen<br />
wird. Ihren fundierten Ausführungen<br />
möchte ich als einer der von ihr erwähnten<br />
‘exotischen Außenseiter’ – nämlich<br />
als approbierter Psychoanalytiker, der<br />
Therapieangebote für geistig Behinderte<br />
macht – noch einiges hinzufügen, was die<br />
Autorin unter ‘weitere Gründe’ nur kurz<br />
anspricht, was aber allein für sich schon<br />
als Problemaspekt hinreicht.<br />
Ich beziehe mich dabei lediglich beispielartig<br />
auf den institutionellen Bereich (Heime<br />
für geistig Behinderte) sowie in Zusammenhang<br />
damit den ‘mentalen’ Aspekt im<br />
Bereich des Leitungs- und Betreuungspersonals.<br />
Gibt es hier Widerstände, ist der<br />
Versuch, für eine/n Bewohner/in Psychotherapie<br />
zu erwirken, praktisch aussichtslos.<br />
Einrichtungen, auf die das Folgende<br />
nicht zutrifft, bitte ich sehr herzlich um<br />
Nachsicht dafür, dass ich aus Gründen der<br />
Deutlichkeit im folgenden ein wenig ‘übervisiere’.<br />
Zunächst sollten wir inhaltlich nachzuvollziehen<br />
versuchen, warum bis vor etwa zwei<br />
Jahrzehnten die Verhaltenstherapie (VT)<br />
das psychotherapeutische Terrain im Bereich<br />
sogenannter geistiger Behinderungen<br />
praktisch allein beherrscht hat. Der Grund<br />
liegt darin, dass Menschen mit geistiger<br />
Behinderung zu den fremdbestimmten<br />
Gesellschaftsgruppen schlechthin gehören<br />
und damit zugleich Hauptbetroffene gesellschaftlicher<br />
Ökonomisierungszwänge sind,<br />
und zugleich darin, dass das therapeutische<br />
Prinzip der VT sich im Sinne dieser Situation<br />
optimal instrumentalisieren lässt.<br />
314 <strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2005</strong>