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Psychotherapeutenjournal 3/2005 (.pdf)

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Leserbriefe<br />

In vielen Einrichtungen für geistig Behinderte<br />

gibt es Bewohner/inn/en mit z. T.<br />

‘klassischen’ psychoneurotischen (z. B.<br />

zwangsneurotischen, angstneurotischen)<br />

Störungen. Zum anderen gibt es häufig<br />

Krankheitsbilder, die man als psychotisch<br />

bezeichnen wird. Die Interferenzen solcher<br />

komorbiden Zustände mit ‘geistiger<br />

Behinderung’ sind noch weitgehend unbekannt.<br />

Nehmen wir das Beispiel eines geistig<br />

behinderten Mannes, der andauernd seine<br />

Kleidung und Schuhwerk zerstört. Die<br />

Einrichtung verfährt hiermit vorwiegend<br />

alltagspädagogisch (sanktionierende<br />

Maßnahmen usw.), zum anderen organisatorisch,<br />

indem man zum Beispiel so<br />

gut es geht Nachschub an Bekleidung<br />

besorgt. Da letzteres nicht vollständig<br />

gelingt, geht dieser Mann immer wieder<br />

gekleidet nur in ein Bettlaken wie ein<br />

lebendes Problembeispiel im Heim herum<br />

und irritiert alle. Als psychotherapeutisch<br />

ist die Problemlage dieses<br />

Menschen dabei – obwohl sie sehr augenfällig<br />

ist – anscheinend einfach kein<br />

Thema.<br />

Die erforderliche psychologische und/oder<br />

psychiatrische Fachkompetenz gibt es intern<br />

in solchem Heimalltag eher selten. In<br />

einzelnen glücklichen Fällen bekommt ein<br />

Behinderter eine extern ausgelagerte Verhaltenstherapie.<br />

Besagter Bewohner jedoch<br />

wird als psychologischer etc. Problemfall<br />

sicherlich eher in der Supervision<br />

behandelt. Dort nun wird seine Situation<br />

vorzugsweise als regulatorische Angelegenheit<br />

oder/und aus verhaltensmodifikatorischer<br />

Sicht betrachtet – also prinzipiell<br />

unter der Frage: „Was kann man machen<br />

…?” Demgegenüber scheinen die inneren<br />

Zusammenhänge (wie sie psychoanalytisch<br />

interessieren würden) einer solchen<br />

Störung schwer oder gar nicht verstehbar,<br />

jedenfalls wäre ja deren mögliche Ergründung<br />

aufwändig, und so hält man sich an<br />

bequemere rezeptartige bzw. probatorische<br />

Lösungsformen nach Art eines: „Versuchen<br />

wir doch einmal …”. Solches Veränderungsverständnis<br />

lässt sich mit der vermeintlich<br />

leichten Erlernbarkeit verhaltenstherapeutischen<br />

Praxishandelns begründen:<br />

…. Das heißt auch, jede/r Betreuer/<br />

in kann dergestalt legitim tätig werden. Was<br />

sollte da noch ein Psychoanalytiker? Dessen<br />

ganzheitlicher Arbeitsansatz geriete<br />

auch zu schnell einmal unökonomisch:<br />

Vielleicht würde er versuchen, die Mitarbeit/inn/en<br />

intensiv einzubeziehen oder/<br />

und zum Beispiel die Bezugsbetreuer/inn/<br />

en zu einer inhaltlichen Auslegung ihrer<br />

Rolle (als schutzbietende Instanz, als ‘Übergangsobjekt’<br />

o. ä.) zu überreden.<br />

Die gegenwärtige, historisch gewordene<br />

Situation der Psychotherapie geistig Behinderter<br />

besagt nach alledem vor allem zweierlei:<br />

Zum einen bedeutet der Versuch, für<br />

geistig Behinderte das Recht auf Psychotherapie<br />

zu etablieren, angesichts gegenwärtiger<br />

Ressourcenknappheit einen gesellschaftlichen<br />

Fortschritt, dessen hauptsächliches<br />

Dilemma darin liegt, dass er nicht<br />

zum Nulltarif zu haben ist. Damit wir unsererseits<br />

die entsprechenden Ökonomisierungszwänge<br />

nicht noch weiter mental<br />

verinnerlichen, bedarf es zum anderen einer<br />

allseitigen Bewusstseinsbildung.<br />

Prof. Dr. Wilhelm Reincke<br />

Neukirchstraße 56<br />

28215 Bremen<br />

wilhelm.reinecke@nord-com.net<br />

Zu Frauke Werther: „… Menschen mit geistiger<br />

Behinderung …“<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

sehr geehrte Frau Werther,<br />

vielen Dank, dass Sie dieses Thema im<br />

<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> behandeln –, es<br />

gibt ja leider nur wenige Veröffentlichungen<br />

dazu, obwohl der Bedarf an Psychotherapie<br />

für Menschen mit Behinderungen groß<br />

ist. Jedenfalls entspricht das unserer Erfahrung<br />

in der Psychiatrisch-Psychotherapeutischen<br />

Ambulanz in der Evangelischen<br />

Stiftung Alsterdorf in Hamburg. Es<br />

handelt sich hierbei um ein Kooperationsprojekt<br />

zwischen dem zur Stiftung gehörenden<br />

Krankenhaus und dem Beratungszentrum<br />

der Behindertenhilfe. Wir haben<br />

seit nunmehr fünf Jahren eine Ermächtigung<br />

zur ambulanten psychiatrischen und psychotherapeutischen<br />

Behandlung von Menschen<br />

mit Behinderung vom zuständigen<br />

Zulassungsausschuss, die, soweit wir wissen,<br />

bisher einzigartig in der Bundesrepublik<br />

ist. Seither behandeln wir im Schwerpunkt<br />

Menschen mit geistiger Behinderung aber<br />

auch Menschen mit anderen Behinderungen<br />

aus Hamburg und Umgebung psychiatrisch<br />

und psychotherapeutisch.<br />

Den Ausführungen im o. g. Fachbeitrag<br />

möchte ich mich im Großen und Ganzen<br />

anschließen, einige wenige Anmerkungen<br />

seien dennoch erlaubt:<br />

Für den Bereich der psychiatrischen Erkrankungen<br />

(bspw. Psychosen) ist es notwendig<br />

und hilfreich, dass auch Menschen mit<br />

geistiger Behinderung wirksame und möglichst<br />

nebenwirkungsarme Medikamente<br />

erhalten, um Leid zu lindern und einen<br />

psychotherapeutischen Zugang zu ermöglichen<br />

(wir machen in unserer Ambulanz<br />

gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit<br />

zwischen ärztlicher und psychologischer<br />

Seite). Ich stimme Ihnen aber zu, dass<br />

Menschen mit geistiger Behinderung in<br />

Institutionen oftmals Psychopharmaka erhalten,<br />

die lediglich der Sedierung oder<br />

Einbindung dienen, ohne dass dies eingebettet<br />

wäre in einen pädagogisch-therapeutischen<br />

Gesamtplan.<br />

Ihre Kritik an der ICD-10, die man ja aus<br />

unterschiedlichen Gründen haben kann,<br />

konnte ich bzgl. der Intelligenzminderung<br />

nicht ganz nachvollziehen. Der Begriff der<br />

„psychischen Störung“ ist dort sehr weit<br />

definiert, eine Gleichsetzung von Intelligenzminderung<br />

und Verhaltensstörung<br />

(kann zusätzlich kodiert werden) bietet sich<br />

nicht automatisch an. Die Intelligenzminderung<br />

ist als Entwicklungsstörung aufgenommen<br />

worden, wie auch die autistische,<br />

tiefgreifende Entwicklungsstörung oder andere<br />

Phänomene, die in der ICD-10 beschrieben,<br />

aber nicht theoretisch erklärt<br />

werden.<br />

<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2005</strong><br />

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