Magazin 198611
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Das Baby<br />
schwieg ...<br />
Fortsetzung aus Heft tOlll6<br />
Als wir von Ferne den Trecker kommen<br />
hOrten, liel uns ein Stein vom Herzen,<br />
und das Baby hörte für kurze Zeit mit<br />
dem Brüllen auf. Diesmal wateten zunächst<br />
fünf Männer zu uns durch den<br />
Schlamm, um die Lage zu klären. Nach<br />
einer schier endlosen Debatte mit Justin<br />
stapften sie zurück. Der Anhänger wurde<br />
abgekoppelt, das Zugfahrzeug schlug<br />
sich rechts in die Büsche und kam nach<br />
einer Weile vor uns wieder raus, walzte<br />
rückwärts auf uns zu und kettete das<br />
Fahrzeug an. Justin setzte sich ans Steuer,<br />
ein kräftiger Ruck, und der Toyota<br />
schlitterte hinter dem Trecker her, bis der<br />
Boden wieder hart und trocken war. Wir<br />
bedankten uns bei dem Fahrer, drückten<br />
ihm ein kräftiges Trinkgeld in die Hand,<br />
sammelten unsere .Familie" ein und<br />
hockten uns schlammverkrustet inS Wageninnere.<br />
Dasselbe Spiel exerzierten wir<br />
noch zweimal bis gegen 20 Uhr (um 19<br />
Uhr war die Sonne untergegangen). Dann<br />
machte uns der Traktorlahrer den Vorschlag,<br />
daß wir uns an seinen Anhänger<br />
anketten sollten, er würde uns bis nach<br />
Somanga ziehen, von da an würde es<br />
viel besser laufen.<br />
Somanga: Das war der halbe Weg nach<br />
Rom oder, genauer, die Hälfte der<br />
Strecke nach Lindi. Für diese 20 Kilometer<br />
ab unserem letzten Schlammeinbruch<br />
berechneten uns unsere Armbanduhren<br />
vIereinhalb Stunden. Dreimal riß die Kette,<br />
zweimal wurden wir mitsamt dem Anhänger<br />
vor uns abgekoppelt, weil der<br />
Trecker einen Tanklastzug und einen<br />
Lastwagen aus dem Dreck ziehen mußte.<br />
Das Baby schlief, aber in der Ferne hörten<br />
wir die Löwen brüllen. Eine halbe<br />
Stunde nach Mitternacht verabschiedete<br />
sich die Traktormannschaft von uns. Wir<br />
standen zwischen den Hütten von Somanga<br />
und beschlossen, die Nacht Im<br />
Fahrzeug zu verbringen. Der einZige, der<br />
wie ein Stein sofort einschlief, war Justin.<br />
unser Fahrer.<br />
Der Freitagmorgen graute gegen 5.30<br />
Uhr, und um 6.15 Uhr stürzten wir uns<br />
ungewasch'!.n, unrasiert, (bis auf Justin)<br />
unausgeschTaien und hungrig in die zu<br />
erwartenden und vor uns liegenden<br />
Schlammlöcher. Um es kurz zu machen:<br />
Einmal schaufelte uns die Einwohnerschaft<br />
des Dorles Miteja frei, einmal half<br />
uns ein Caterpillar der Straßenbaubehörde,<br />
dreimal halfen wir uns selbst, und<br />
zweimal zogen uns vorbeikommende Armeelastwagen<br />
aus dem Dreck.<br />
Um 15 Uhr fuhren wir in Kilwa ein, der<br />
58 ZS-...... GAZIN 11-1211l6<br />
einst so berühmten Hafenstadt mit seiner<br />
goldenen Moschee, die im 15. Jahrhundert<br />
als eine der schönsten Afrikas galt.<br />
In Kilwa machten sie alle Station, die Portugiesen,<br />
die Holländer, die Engländer,<br />
alle, die nach Aden wollten, nach Hormus,<br />
nach Java und zu den Gewürzinseln.<br />
Von Kilwa aus starteten die Karawanen<br />
der Araber in die legendäre Stadt<br />
Zimbabwe, um Rhinohörner und Gold zu<br />
erstehen. Wir hatten keine Zeit für eine<br />
große Stadtrundfahrt. Vor uns lagen noch<br />
169 Kilometer bis Lindi.<br />
Saidi Namwewe, Rotkreuz-Präsident von<br />
Lindi, traute seinen Augen nicht, als er<br />
uns gegen 23 Uhr an jenem Freitag an<br />
seiner Haustür sah. Nachdem wir unsere<br />
doch ziemlich erschöpften Passagiere gut<br />
abgesetzt hatten, war es uns mit List und<br />
Tücke gelungen, den Wohnsitz des PräSIdenten<br />
ausfindig zu machen. Und da waren<br />
wir nun und wollten nichts als schlafen.<br />
Nach einer weiteren halben Stunde<br />
fanden wir eine Art Pension, die noch<br />
drei Zimmer frei haue, doch zuvor noch<br />
rasch ins Strand hotel und ein lauwarmes<br />
Cola getrunken und das Programm für<br />
den Samstag durchgesprochen.<br />
Den Ankommenden beurteilt man nach<br />
~einem Rock, den Abgehenden nach seiner<br />
Rede." Dieser Weisheit Immanuel<br />
Kants machten wir in Lindi, der "unterentwickeltsten<br />
Region in Tansania", alle<br />
Ehre. Wir waren fast völlig verdreckt angekommen,<br />
und am nächsten Morgen<br />
bestaunte jedermann, der den Landcruiser<br />
mit seinem angetrockneten Schlammpanzer<br />
sah, auch gleichzeitig uns drei<br />
Verrückte, die während der Regenzeit die<br />
Fahrt von Darassalam nach Lindi unternommen<br />
hatten. Als wir uns Stunden<br />
später offiziell mit Reden verabschiedeten,<br />
wurden diese gar im Rundfunk auszugsweise<br />
zitiert. Der Landesverband Lindi,<br />
erst 1984 gegründet, leidet, wie die<br />
gesamte Region, darunter, daß sich niemand<br />
um ihn kümmert. Die kümmerliche<br />
Infrastruktur behindert jede normale Kommunikation,<br />
und wäre Saidi Namwewe<br />
nicht am Krankenhaus beschäftigt und<br />
hätte er nicht einen so guten Draht zum<br />
Regional Medlcal Officar (vergleichbar<br />
dem Chef eines Gesundheitsamtes bei<br />
uns), dann wäre mit dem Roten Kreuz in<br />
Lindi nicht viel los. 300 der 416 Mitglieder<br />
gehören dem Jugendrotkreuz an. Sie<br />
wollen demnächst in den Schulen kleine<br />
Rotkreuz-Einheiten bilden und ausbilden.<br />
Die äfteren Aktiven kümmern sich darum,<br />
Blutspender für das Krankenhaus zu finden,<br />
und der Leiter der Gesundheitsbehörde<br />
würde es sehr begrüßen, wenn<br />
Rotkreuzler aufs Land hinausgingen, um<br />
den Menschen dort zu helfen. Zwar rangiert<br />
Lindi derzeit in der Prioritätenliste<br />
des Tansanischen Roten Kreuzes nicht<br />
gerade an vorderster Stelle. aber wenn<br />
es ein querschnittgelähmter ehrenamtlicher<br />
Rotkreuz-Geschäftsführer geschafft<br />
hat, in dieser verlassenen Ecke des Landes<br />
Menschen für die Rotkreuz-Idee zu<br />
interessieren, dann kann man nicht einfach<br />
danebenstehen und sie werkeln lassen<br />
: Die Blutbank des Hospitals benötigt<br />
dringend einen Kühlschrank, um die Blutspenden<br />
zu lagern, es fehlt an Lehrbüchern<br />
für die Sanitätsausbildung, an<br />
Lehrmaterial zum Üben (Dreieckstücher,<br />
Mullbinden. Schienen), der Jugendrotkreuz-Leiter<br />
sollte auf Seminare geschickt<br />
werden, der Geschäftsführer braucht eine<br />
Schreibmaschine, ganz zu schweigen von<br />
den Mitgliedskarten, Anstecknadeln, eben<br />
jenen fast schon als primitiv zu bezeichnenden<br />
Grundausstattungen, ohne die<br />
ein Ortsverein im Deutschen Roten Kreuz<br />
nicht mal ein einZiges Mitglied werben<br />
könnte.<br />
Am Palmsonntag setzten wir unsere<br />
Reise (im friSch gewaschenen Wagen)<br />
auf einer neu asphaltierten Straße nach<br />
Mtwara fort. Ein Genuß! 106 Kilometer<br />
weiter bezogen Wir im dortigen Strandhotel<br />
Quartier und wurden am nächsten Tag<br />
von Dr. Ladda, dem Rotkreuz-Präsidenten,<br />
abgeholt. Das besonders während<br />
der Regensaison völlig aufgeweiChte<br />
Straßennetz (sofern man überhaupt von<br />
"Straßen" reden kann) macht es schier<br />
unmöglich, ärztliche Versorgung in die<br />
rund 490 Dörler der Region zu bringen.<br />
Es liegt auf der Hand, daß hier das Rote<br />
Kreuz gefragt ISt, zumal wenn es um Gesundheitserziehung,<br />
um speZielle Mutterund-Kind-Programme<br />
und ganz besonders<br />
um das Ligaprojekt "Child alive"<br />
geht.<br />
Vom Landesverband des Tansanischen<br />
Roten Kreuzes in Mtwara ISt freilich vorerst<br />
nicht viel zu erwarten. Der Präsident,<br />
selbst ein MedIZiner am städtischen<br />
Krankenhaus, betreibt eine Art Ein-Mann<br />
Show, obwohl es auf dem Papier immerhin<br />
24 t Mitglieder gibt, die allerdings<br />
dann zupacken. wenn die Region alle<br />
Jahre wieder mit Überschwemmungen<br />
konfrontiert wird. Für Mtwara gilt daher<br />
um so mehr, was wir auch schon in Lindi<br />
beobachtet hatten: Trotz der widrigen Infrastruktur<br />
muß sich die Rotkreuz-Zentrale<br />
in Daressalam mit Hilfe von Schwestergesellschaften<br />
einiges einfallen lassen,<br />
um die "weg vom Schuß" liegenden Regionen<br />
zu betreuen, zu motivieren, Pro·<br />
jekte ins Leben zu rufen.<br />
Die 1 500 Kilometer zurück in die Hauptstadt,<br />
diesmal auf einer anderen Route,<br />
schalffen wir in anderthalb Tagen. Da es<br />
bei mir zu Hause vier Tage lang (bis<br />
Ostermontag) kein Wasser gab, mußte<br />
ich meine beiden Kühlschränke abtauen,<br />
was knapp fürs Zähneputzen reichte.<br />
Auch das ist Tansania. Dafür gab's in<br />
Lindi nur vier Stunden Strom täglich. Was<br />
nutzt ein Kühlschrank für die Blutkonserven,<br />
wenn er ohne Stromaggregat geliefert<br />
wird?<br />
Carl-Walter Bauer