Druck - Deutscher Rat für Landespflege
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108 Schr.-R. d. Deutschen <strong>Rat</strong>es für <strong>Landespflege</strong> (2005), Heft 77, S. 108-112<br />
Mario F. Broggi<br />
Eckpunkte einer europäischen Kulturlandschaftsforschung<br />
„Die Erde wird ein gigantisches Boston<br />
oder noch eher Chigaco mit etwas Landwirtschaft<br />
dazwischen, das Gebiet der letzteren<br />
nannte man früher Natur“<br />
(Prinzip Hoffnung, Ernst Bloch)<br />
Einleitung<br />
Ich sage es gleich zu Beginn: Mit Bestimmtheit<br />
wird dieser Beitrag dem ambitiösen,<br />
vorgegebenen Titel nicht gerecht werden<br />
können. Es wird aber versucht, einige Fraktale<br />
aus Gedanken und Erfahrungen zu präsentieren,<br />
die ihrerseits zum Nachdenken<br />
anregen sollen. Mit der wachsenden Berufserfahrung<br />
ist dies zunehmend mit einer ganzheitlichen<br />
Sicht verbunden. „Dilettieren“ –<br />
also im ursprünglichen Sinne sich als Nichtfachmann<br />
betätigen und nicht wie heute<br />
eher abschätzig mit stümperhaft verbunden<br />
– bedeutet suchen und versuchen, Ideen zu<br />
formulieren, Zusammenhänge zu schaffen,<br />
die über das eigene Arbeitsgebiet der ökologischen<br />
Raumordnung hinausreichen. Und<br />
das ist, wenn es sich um Landschaft handelt,<br />
durchaus richtig und wichtig. Denn Landschaften<br />
sind vorerst einmal einzigartig, also<br />
individuell vorhanden, nicht ersetzbar und<br />
in ihren Wechselwirkungen der auf sie wirkenden<br />
Kräfte komplex angelegt. An Landschaften<br />
heranzutreten, setzt eine gewisse<br />
Demut voraus und zeigt uns immer auch die<br />
Grenzen unseres eigenen sektoralen Wissens.<br />
Es wird im Folgenden der Versuch unternommen,<br />
eine summarisch-verkürzte<br />
Landschaftsbeschreibung aus der Schweiz<br />
problemgeladen zu skizzieren. Diese steht<br />
stellvertretend für den Landschaftswandel<br />
in Mitteleuropa. Daraus werden zwei<br />
Reflektionen zum Thema Landschaftswahrnehmung<br />
und Nachhaltigkeit eingebracht.<br />
Aus diesen Streiflichtern wird dann<br />
versucht, eine Kernbotschaft zum Thema<br />
abzuleiten.<br />
„Verbrauchslandschaft“ frisst<br />
„Schönlandschaft“<br />
Ich gestehe, ich fliege nicht gerne, alles ist<br />
mir zu eng und unbequem, und dennoch ist<br />
das Fliegen praktisch. Auch ein Fensterplatz<br />
ist für mich keine Offenbarung. Oder<br />
vielleicht doch ab und zu? Über fremden<br />
Ländern bewundere ich manchmal die<br />
Landbauformen, die aussehen wie „Land-<br />
Art“, oder aber es fasziniert mich ein mäandrierender<br />
Fluss in einer Naturlandschaft<br />
(Abb. 1). Im Grenzraum Österreich-<br />
Abb. 1: Mäander des Stromes Ob (Sibirien). – Über fremden Ländern bewundere ich manchmal die<br />
Landbauformen oder es fasziniert ein mäandrierender Fluss in der Naturlandschaft ... (Foto: M. F.<br />
Broggi).<br />
Deutschland sehe ich mir die Übergänge zur<br />
nahenden Schweiz meist genauer an. Dort<br />
die Haufendörfer im Allgäuer Alpenvorland<br />
oder die Streusiedlungen im Bregenzerwald,<br />
alles entweder kompakt oder<br />
zumindest nachvollziehbar in der Entwicklung<br />
gestaltet – hier südlich des Rheins gibt<br />
es nur noch die Stadt und kaum Land mehr.<br />
Man förderte – nicht willentlich – anstelle<br />
eines Metropolenmodells das „Modell Los<br />
Angeles“, den Siedlungsbrei allerorten. Es<br />
ergab sich so die „Verbrauchsschweiz“ (vgl.<br />
Abb. 2). Die „Schönschweiz“, das sind dagegen<br />
die Berge, die Landschaft mit Seen,<br />
das intakte Kalenderbild, die Ferienschweiz<br />
(nach LODERER 1999). Das heißt über<br />
dem Nebelmeer liegt unser „moralisches“<br />
Massiv, verbunden mit dem Mythos von<br />
Heidi und Milkakuh. Peinlich, ja wohl fast<br />
pervers ist es, dass die touristische Marke<br />
„Heidiland“ in der Schweiz patentiert, verkauft<br />
und herumgeschubst wird. Sie ist<br />
derzeit im Sarganserland angesiedelt, just<br />
auf der anderen Talseite des Alpenrheins,<br />
wo einst sich Johanna Spyri in Maienfeld<br />
und Jenins in der Bündner Herrschaft für<br />
ihren Heidi-Roman inspirieren ließ. Zurück<br />
zur „Verbrauchsschweiz“: Dort leben 73 %<br />
der BewohnerInnen in Ballungsräumen. Ihr<br />
Name sei Agglomeration, die Bewohner<br />
sind demgemäß die „Agglomeriten“<br />
(LODERER 1999). Dort gibt es überall städtische<br />
Formen, auch dann, wenn die Leute<br />
behaupten, sie wohnten auf dem Land. Die<br />
Verbrauchsschweiz wird kaum erkannt und<br />
anerkannt, auch wenn jede Sekunde ein<br />
Quadratmeter verbaut wird. Das Land ist<br />
bloß noch Landschaft, in der überall Stadt<br />
ist. In der „Schönschweiz“ wechseln ihrerseits<br />
jedes Jahr 5.000 ha offenes Grünland<br />
schleichend zu Wald (BRASSEL &<br />
BRÄNDLI 1999). Das ist jährlich die Fläche<br />
des Thuner- oder Luganersees und verändert<br />
vorerst einmal Kulturlandschaft. Auf<br />
der Südabdachung ragen darum die<br />
Kirchtürme teils aus dem Wald heraus, das<br />
führt zu sekundärer Wildnis, was ich nicht<br />
nur als schlecht beurteile. Aber es wäre<br />
schon vorher eine Überlegung wert, die<br />
Zukunft dieser Räume zu diskutieren, nämlich<br />
ob wir einen „geordneten Rückzug“<br />
wollen oder nicht, und vor allem wo. Wir<br />
könnten, um die Bedeutung markant zu unterstreichen,<br />
sagen: Erstmals ist hier die<br />
Menschheit aufgefordert darüber nachzudenken,<br />
welche Landschaft sie wo will, weil