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Druck - Deutscher Rat für Landespflege

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mag auch zu Herzen gehen, wenn man hört,<br />

dass Emigranten in früheren Zeiten nicht<br />

selten einen Beutel Heimaterde mit auf die<br />

Reise nahmen, um nicht nur in und mit<br />

fremder Erde begraben zu werden. Gerade<br />

die „warmen“, „herzergreifenden“, ja „rührenden“<br />

Begriffe sind aber moralisch und<br />

politisch keineswegs harmlos. Das Heimatgefühl<br />

mag sich in aller Unschuld im Gemüt<br />

vieler unverbildeter und bodenständiger<br />

Menschen regen, die Konzeptionen des<br />

Heimatschutzes dulden weder ethisch noch<br />

historisch eine naive Betrachtung. Gewiss<br />

erscheint Heimatliebe auch als eine Grundeinstellung,<br />

an die der Naturschutz anknüpfen<br />

kann, um seine Erfolgsaussichten „vor<br />

Ort“ zu erhöhen. Wer jedoch glaubt, das<br />

scheinbar so harmlose Gefühl der Heimatliebe<br />

geschickt für die guten Zwecke des<br />

Naturschutzes in Dienst stellen zu können,<br />

der unterschätzt die Gefahr.<br />

3. Wir verfügen über einige Chiffren zum<br />

Thema „Heimat“. Solche auf Ortsnamen<br />

bezogenen Chiffren wären auf eine Art und<br />

Weise zu deuten, die Walter Benjamin vorschwebte:<br />

im Sinne einer rettenden Kritik.<br />

Die älteste Chiffre ist die Figur des Odysseus.<br />

Das Motiv der Odyssee ist letztlich die Heimkehr<br />

nach Ithaka. Die Heimreise des<br />

Odysseus scheint ein einziger Irrweg, auf<br />

dem sich das moderne, selbstgewisse Subjekt<br />

herausbildet (so die berühmte Interpretation<br />

bei HORKHEIMER & ADORNO<br />

1944 bzw. 1986). Die Heimkehr wird immer<br />

wieder aufs Neue angetrieben durch das<br />

Gefühl des Heimwehs. 3 So verschlagen und<br />

listig Odysseus ansonsten ist; das Heimatgefühl<br />

ist stärker als die Stimme der Vernunft,<br />

die dazu rät, an fremden Orten zu<br />

bleiben, an denen es sich auch leben ließe<br />

und an denen man der Gefahr der Seefahrt<br />

entronnen wäre. „Ithaka“ steht für einen<br />

besonderen Platz, den Odysseus besseren<br />

Plätzen vorzieht und für den er sich immer<br />

wieder in Gefahr begibt. 4 Der Mythos von<br />

Odysseus enthält in der Chiffre „Ithaka<br />

wählen“ ein offenes und mehrdeutiges Motiv<br />

des menschlichen Lebens.<br />

4. Ein Zeitungsartikel griff das Thema „Heimat“<br />

vor einiger Zeit auf (DECKER 2002).<br />

Ein Kind sagt auf dem Quedlinburger Marktplatz:<br />

„Das ist eine Weihnachtskalenderstadt,<br />

das ist eine richtige Stadt“. Die Mutter<br />

wird stutzig, assoziiert „Weihnachten“,<br />

„Stadt“, „Kindheit“, „Zuhause“, „Nachhausekommen“.<br />

Unmittelbar anschließend<br />

regt sich kritisches Bewusstsein in der Form<br />

von Abwehr.<br />

„Das ist skandalös, das ist schizophren ...<br />

Zuhause ist ein stockkonservativer Begriff<br />

… Moderne Städte sind Umschlagplätze.<br />

Wir alle – sofern wir moderne Individuen<br />

sind – sind Teil von Umschlagplätzen. Variabel<br />

und grenzenlos bewegungsbereit.<br />

Auch im Geiste. Das ist unser Stolz. Deshalb<br />

besteht unsere ganze Aufgeklärtheit in<br />

der Einsicht, dass es das gar nicht geben<br />

kann: ein Zuhause. Jedes Zuhause ist zuletzt<br />

Fiktion. Wer das nicht durchschaut, kann<br />

kein modernes Individuum sein.“<br />

Ist, so möchte man im gleichen kritischen<br />

Geist hinzufügen, die Differenz zwischen<br />

Berlin und Quedlinburg nicht auch die Differenz<br />

zwischen Bauhaus und Schultze-<br />

Naumburg, zwischen Mies van der Rohe<br />

und Schmitthenner, zwischen Brecht und<br />

Kolbenheyer, zwischen Cassirer und<br />

Klages? Wurde der Dom zu Quedlinburg<br />

nicht unter den Nazis zu einer neuheidnischen<br />

Kultstätte? Muss da nicht jede<br />

aufgeklärte, demokratische Person wissen,<br />

für welche Seite sie Partei zu ergreifen hat?<br />

Aber ist das andererseits nicht auch eine<br />

traurige Form der Aufgeklärtheit, die jedes<br />

Zuhause als Fiktion durchschaut? Und ist<br />

für Naturschützer ein Aufenthalt in<br />

Quedlinburg und eine Wanderung im Bodetal<br />

einem Aufenthalt in „gesichtslosen“<br />

Großstädten und ausgeräumten Agrarlandschaften<br />

nicht allemal vorzuziehen?<br />

„Quedlinburg“ ist insofern eine (deutsche)<br />

Chiffre ähnlich wie „Ithaka“. Diese Chiffre<br />

lässt sich wertend so umschreiben: Vielen<br />

Personen ist es nicht genug, ihr Leben<br />

irgendwo im durchschnittlichen Mittelklassesiedlungsbrei<br />

zu verbringen (ähnlich<br />

HECHT 2000). Sie suchen daher nach besonderen,<br />

nach markanten, außerordentlichen<br />

Orten, die mit ihrem Entwurf von<br />

Individualität korrespondieren (sensu SEEL<br />

1991). Quedlinburg ist nun solch ein markanter<br />

Ort. 5 Der Versuch, die eigene Individualität<br />

zum Ausdruck zu bringen, ist nicht<br />

völlig unabhängig von den Orten, an denen<br />

man sich niederlässt.<br />

5. Die Sehnsucht nach einer neuen, ländlichen<br />

Heimat und „echter“ Gemeinschaft<br />

motiviert seit fast hundert Jahren zur Gründung<br />

von kommunitären Gemeinschaften<br />

(LINSE 1983). Sie motiviert gegenwärtig<br />

auch die Bewohner von „Ökodörfern“ wie<br />

etwa die Kolonie „Siebenlinden“ in der Altmark:<br />

Überschaubarkeit, Gemeinschaft unter<br />

gleich gesinnten Personen, Ablehnung<br />

der säkularen Zivilreligion des Konsumismus<br />

und ein „nachhaltiges“ Leben im Einklang<br />

mit der Natur sind hier die Grundwerte.<br />

Ähnlich verstehen die Vilmer Thesen<br />

„Heimat“ als kritische Kategorie im Zeitalter<br />

ökonomischer Globalisierung (These 5,<br />

These 12.6). 6 Kritisieren lassen sich aus<br />

dieser Perspektive sowohl die „Heimatlosigkeit“<br />

des (Geld-)Kapitals als auch die<br />

25<br />

Paradoxie, dass einerseits gerade die politischen<br />

Parteien mehr Patriotismus, Heimatliebe,<br />

Familiensinn und „Verwurzelung“<br />

abfordern, die andererseits Mobilität und<br />

Flexibilität anmahnen. Widersprüchlichkeiten<br />

zwischen der erforderlichen beruflichen<br />

Mobilität (Stichwort: „Jobnomadismus“)<br />

und dem Wunsch nach privater<br />

Sesshaftigkeit lassen sich nicht bestreiten<br />

(so auch AUSTER 2003).<br />

6. Mit Moralität im engeren Sinne haben<br />

diese drei Chiffren „Ithaka“, „Quedlinburg“,<br />

„Siebenlinden“ wenig zu tun. Allerdings<br />

sind sie zumindest in den hier vorgelegten<br />

Ausdeutungen mit einer universellen Moralität<br />

(OTT 2001, insb. Kap. 8) verträglich.<br />

Moralität ist, wenn man das Problem der<br />

moralischen Selbstwerte für Naturwesen<br />

(Inklusionsproblem) einmal außer Betracht<br />

lässt, eine „dünne“ Schicht all der moralischen<br />

Rechte und Pflichten, die Menschen<br />

unabhängig von ihrer jeweiligen Konzeption<br />

des guten Lebens einander schuldig sind.<br />

Moralität ist eine Bedingung der Möglichkeit,<br />

dass unterschiedliche Lebensstile und<br />

Kulturen in einer sozialen Welt friedlich<br />

und angstfrei miteinander existieren können.<br />

Das menschliche Leben jedoch erfüllt<br />

sich nicht in Moralität (bzw. geht nicht darin<br />

auf). Die „dichten“ Themen des „guten Lebens“,<br />

darunter eben auch das Heimatthema,<br />

lassen sich daher zwar aus der reinen Moralphilosophie,<br />

nicht jedoch aus den Argumentationsräumen<br />

praktischer Philosophie<br />

ausgrenzen.<br />

3 „Heimweh ist es, das die Abenteuer entbindet,<br />

durch welche Subjektivität … der Vorwelt<br />

entrinnt. Daß der Begriff der Heimat<br />

dem Mythos entgegensteht, den die Faschisten<br />

zur Heimat umlügen möchten, darin ist<br />

die innerste Paradoxie der Epopöe beschlossen<br />

… Heimat ist das Entronnensein“<br />

(HORKHEIMER & ADORNO 1986, S. 85<br />

f).<br />

4 Die Heimkehr des rächenden und triumphierenden<br />

Subjekts als des alten und neuen Herrschers<br />

ist allerdings ein Blutbad, das mit der<br />

Erhängung der angeblich treulosen Mägde<br />

endet. HORKHEIMER & ADORNO (1986)<br />

sahen hier einen Umschlag in die Barbarei.<br />

5 Ähnlich wie die Nordseeinsel Pellworm,<br />

Oberschönmattenwag im Odenwald und<br />

Greifswald in Vorpommern.<br />

6 Ähnlich auch Klaus TÖPFER (2004), der<br />

den (spekulativen) Zusammenhang zwischen<br />

kultureller Vielfalt und Biodiversität anspricht.

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