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Druck - Deutscher Rat für Landespflege

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(einstige) Gegenwart als Bezugspunkt der<br />

ursprünglichen Rückwendung, immer deutlicher<br />

zu einer Vergangenheit, zu einem<br />

Vorher von heute. Das erinnert stark an das<br />

Gedicht vom Anfang des Vortrags: Wir sind<br />

der Heimat immer schon voraus, das heißt<br />

aber auch, dass gerade der aktuelle Verlust<br />

und selbst noch kommende Veränderungen<br />

zur Heimat von morgen und übermorgen<br />

werden können. Das klingt an sich nicht<br />

weiter aufregend, so ist das eben mit der<br />

Zeit, könnte man sagen. Das wird jedoch<br />

insofern sehr relevant, als sich die normativen<br />

und motivationalen Grundlagen der<br />

<strong>Landespflege</strong> immer klarer selbst als durch<br />

und durch historische Kompromisse erweisen,<br />

die konkrete, sich wandelnde geschichtliche<br />

Bezugspunkte haben. Zugespitzt formuliert:<br />

Wenn schon früher galt, dass die<br />

Zerstörungen von gestern die Objekte der<br />

<strong>Landespflege</strong> von heute sind, dann steigert<br />

sich das langsam aber sicher auch zur selbsterkennenden<br />

Prognose: Die Zerstörungen<br />

von heute sind die Objekte der <strong>Landespflege</strong><br />

von morgen, die Zerstörungen von<br />

morgen die Objekte von übermorgen usw.<br />

Da verschwimmt dann der normative Grund<br />

ganz und gar, und es wird klar, dass die<br />

Rolle gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse<br />

über die Gewünschtheit bestimmter<br />

Zustände von Natur und Landschaft noch<br />

viel radikaler in den Vordergrund treten<br />

wird und muss, als dies heute der Fall ist.<br />

Ein zweiter Aspekt der wissenschaftlichen<br />

Systemzeit verstärkt noch die genannten<br />

Effekte: Im Laufe der funktionalen Differenzierung<br />

und Spezialisierung der einschlägigen<br />

Wissens- und Praxisbereiche entfernen<br />

diese sich schon von ganz alleine von<br />

den ursprünglichen Ideen und normativmotivationalen<br />

Grundlagen. Die naturschutzfachlichen<br />

Erwägungen gehorchen<br />

selbst einer inneren Systemlogik mit ihrem<br />

eigenen zeitlichen Verlauf. So interessiert<br />

sich die <strong>Landespflege</strong> heute auch ganz ohne<br />

Rückbezug zu irgendwelchen Heimatkonstrukten<br />

für schwermetallhaltige Abraumhalden<br />

und sonstige „unschöne“<br />

Dinge, die früher oder später notwendig in<br />

einen systematisch historisierenden Landschaftsblick<br />

geraten. Das heißt, die Binnenentwicklung<br />

der zugehörigen wissenschaftlichen<br />

Diskurse weist in die gleiche Richtung<br />

wie die gesellschaftliche Abkoppelung<br />

von bestimmten, mehr oder weniger kollektiv<br />

gelebten Erfahrungsmomenten im Prozess<br />

der ländlichen Modernisierung.<br />

III Weltzeit – Zeitlose Zeit<br />

Wir können den Heimat- und Naturschutz<br />

als eine Bewegung der industriellen Moderne<br />

verstehen, auch wenn und gerade weil sie<br />

in mancher Hinsicht anti-modern daherkommt.<br />

Die industrielle Moderne des ausgehenden<br />

19. und des 20. Jh. ist mit der<br />

Durchsetzung einer linearen Normzeit verbunden,<br />

wie historisch und literarisch<br />

verschiedentlich herausgearbeitet worden<br />

ist. Schon Georg Simmel beschreibt, wie<br />

sich Anfang des letzten Jahrhunderts in<br />

Berlin die Taschenuhren so stark ausbreiten,<br />

dass das Funktionieren der Großstadt<br />

vor allem als ein Synchronisierungsproblem<br />

erscheint; die Rolle der Eisenbahnen ist<br />

vielfach hervorgehoben worden, die diese<br />

Taktung des Raums in die Fläche tragen –<br />

bis in die 1890er Jahre gab es ja noch unterschiedliche<br />

Ortszeiten in Deutschland. Kurz<br />

vor dem Ersten Weltkrieg sendet der<br />

Eiffelturm erstmals ein Normzeitsignal in<br />

„Echtzeit“ um die Welt.<br />

Die Bewegung für den Heimatschutz möchte<br />

dagegen die ländlichen Eigenzeiten bewahren,<br />

die Differenzen in der Entwicklung,<br />

die sozial-natürlichen Rhythmen im<br />

Laufe des Jahres und der Jahrzehnte, eine<br />

Ungleichzeitigkeit, Rückständigkeit, oder<br />

sagen wir Inseln in der zunehmend dominierenden<br />

Weltzeit.<br />

Wir haben schon festgestellt, dass dieses<br />

Bemühen selbst historisch wird und sich<br />

damit die Zustände verschieben, die als Zeitinseln<br />

erhalten werden sollen. Dabei herrscht<br />

aber im modernen Sinne die Vorstellung<br />

vor, dass eine gewisse Kohärenz und<br />

Gradualität in der Raum-Zeit-Verbindung<br />

gegeben ist – je weiter wir weg sind von<br />

„daheim“, desto fremder wird die Umwelt,<br />

und auch je weiter wir weg sind von der<br />

Vergangenheit, desto fremder wird die<br />

Umwelt. Die Zielzustände der Schutzbemühungen<br />

wären dann zwar beweglich,<br />

moving targets, aber ihre Bewegung verliefe<br />

doch zumindest auf berechenbaren, festen<br />

Bahnen.<br />

Nun argumentieren verschiedene Theoretiker<br />

der Geographie und der Sozialwissenschaften,<br />

wie David Harvey und Manuel<br />

Castells, dass wir es heute schon nicht mehr<br />

(nur) mit der Weltzeit zu tun haben, die im<br />

Laufe des 20. Jh. alle sozialen Vorgänge in<br />

eine absolute zeitliche Beziehung setzt. Eine<br />

neuerliche „Zeit-Raum-Komprimierung“<br />

(HARVEY 1989) verändere vielmehr sowohl<br />

die Natur als auch die Erfahrung von<br />

Raum und Zeit auf ungekannte Weise (vgl.<br />

a. MAY & THRIFT 2001, S. 6-20). Am<br />

Beginn des 21. Jh. seien wir dadurch mit<br />

einer qualitativ neuen Situation konfrontiert,<br />

in der die „lineare, irreversible, messbare,<br />

vorhersagbare Zeit ... zerschlagen“<br />

wird (CASTELLS 2001, S. 489). An ihre<br />

Stelle tritt, in den Worten Castells’, die<br />

„zeitlose Zeit“ der Netzwerkgesellschaft.<br />

Hinter den Formeln von einer Komprimierung<br />

oder gar einem Verschwinden<br />

53<br />

der Zeit stehen Überlegungen, die sich auf<br />

die Prozesse der Globalisierung und<br />

besonders auf die Entwicklungen der<br />

Informationstechnologien während der letzten<br />

zwei Jahrzehnte beziehen. Neben der<br />

Explosion des Waren- und Personenverkehrs<br />

spielt dabei die Übertragung von immensen<br />

Datenmengen in „Echtzeit“ eine<br />

entscheidende Rolle: Dass ich heute auf<br />

meiner Streuobst-Wiese sitzen und dabei<br />

auf meinem Laptop eine japanische Musiksendung<br />

hören oder die amerikanische<br />

Superbowl erleben kann, mag man noch als<br />

oberflächlichen Ausdruck veränderter<br />

Konsummuster abtun. Ich kann mich mit<br />

meinen Mausklicks aber auch daran beteiligen,<br />

die thailändische Volkswirtschaft zu<br />

ruinieren (wie dies fast nur über Devisentransfers<br />

1997 in wenigen Tagen geschehen<br />

ist). Oder, um am Beispiel zu bleiben, ich<br />

kann einen Terminkontrakt für Äpfel aus<br />

Südafrika handeln, was vielleicht wenig<br />

später schon die Preise auf dem Großmarkt<br />

im badischen Oberkirch purzeln lässt. Zum<br />

ersten Mal haben wir heute einen weitgehend<br />

vereinheitlichten, global zeitsynchronisierten<br />

Kapitalmarkt, der die Sequenzialität<br />

in einem Raum der Ströme auf ein Minimum<br />

zurückstutzt (CASTELLS 2001, S.<br />

491 f.).<br />

Es ist klar, dass diese Entwicklungen umfassende<br />

Folgen auf verschiedenen Ebenen<br />

haben. Die vollständige Synchronisation<br />

oder Zeitlosigkeit im ökonomischen Kern<br />

der Weltgesellschaft ist umgeben von<br />

tausenden immer noch vorhandenen, asynchronen<br />

zeitlichen Bindungen und systemischen<br />

Eigenzeiten, die mit den genannten<br />

Entwicklungen nicht etwa einfach verschwinden.<br />

Nicht zuletzt tragen Menschen<br />

in aller Welt in ihren „Inkorporierungen“<br />

einige dieser Eigenzeiten umher. Und es ist<br />

keineswegs so, dass aufgrund der Zeit-Raum-<br />

Verdichtung die Identitäts- und Bindungswünsche,<br />

die im klassischen Heimatdiskurs<br />

aufgehoben sind, geringer würden. Im Gegenteil<br />

lässt sich beobachten, dass überall<br />

Regionalismen und Fundamentalismen, zum<br />

Teil auch neue Nationalismen und Rassismen<br />

fruchtbaren Boden finden. Man kann dies<br />

gerade als eine – recht hilflose, aber in<br />

anderer Hinsicht wirkungsvolle – Entgegensetzung<br />

zur der globalen Dynamisierung<br />

und Entgrenzung in vielen Bereichen begreifen.<br />

In einer dergestalt zeitlosen Zeit, wie sie<br />

einige Theoretiker heute zu erkennen glauben,<br />

wird allerdings erst recht die tiefe<br />

Vergangenheitsbindung der alten Heimatschutzidee<br />

fraglich und davon wird auch die<br />

heutige <strong>Landespflege</strong> noch berührt. Eine<br />

Versöhnung durch Experten ist hier kaum<br />

mehr anzubieten. Denn der Versuch, die

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