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Druck - Deutscher Rat für Landespflege

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51<br />

selben Wege. Das Vertrauen darauf, dieselben<br />

Bäume auch nächstes Jahr noch vorzufinden,<br />

den See ... Es war auch ein Kastanienaufsammeln<br />

... Ein Apfelbaum, ein verbotenes<br />

Spiel. Ein Klettern über den Zaun. Heimat<br />

war auch ein Bücherlesen ... Heimat<br />

war auch Magenschmerzen.“ (LENTZ 2004,<br />

S. 204).<br />

GIDDENS (1988) bezeichnet diesen zweiten<br />

Zeittypus des alltäglichen Vollzugs und<br />

der wiederkehrenden Praktiken und Routinen<br />

mit einem anderen Begriff, er nennt<br />

dies in Anlehnung an Bergson die „durée“.<br />

Daran lassen sich auf andere Weise nochmals<br />

Überlegungen anknüpfen, wie sich die heimatliche<br />

Landschaft in uns festsetzt, nämlich<br />

nicht nur in unseren Köpfen als Erinnerung<br />

an einen Lebensabschnitt, sondern auch<br />

in unseren Körpern, als eine Inkorporierung,<br />

die uns ganz physisch in die Welt bringt. In<br />

dem Zitat ist das etwa in dem Kastanienaufsammeln<br />

enthalten. Wir alle können da eigene<br />

Geschichten anknüpfen, vom Auf-die-<br />

Bäume-Klettern, von bestimmten wiederkehrenden<br />

Wegen, vielleicht von der Angst<br />

an bestimmten Ecken, von Äpfeln oder Oliven.<br />

Das In-die-Welt-Kommen geschieht in<br />

einem bestimmten materiellen Rahmen und<br />

viele unserer stärkeren, gerade körperlichen<br />

Erfahrungen in dem Alter, in dem wir unsere<br />

eigene Welt erschließen, finden irgendwo<br />

draußen statt, in dem, was dann später<br />

vielleicht eine „heimatliche Landschaft“<br />

wird.<br />

Das Subjektive dieser Zeit ist also sowohl<br />

das Ich-hafte, verstanden als Entstehung<br />

von Handlungsfähigkeit, als auch das Unterworfene,<br />

das Subjizierte, das in dem Wort<br />

mit drinsteckt. Unterworfensein, nicht nur<br />

den natürlichen Bedingungen, sondern hier<br />

vor allem den sozialen: Das deuten im obigen<br />

Zitat die Magenschmerzen an, als Prototyp<br />

der psychosomatischen Leiden. Die<br />

subjektive Zeit als Dasein und durée heißt<br />

also keinesfalls einfach individuelle, selbstbestimmte<br />

Lebenszeit. Die subjektive Zeit<br />

ist eine soziale Zeit in ihren Bedingtheiten<br />

und Wirkungen. Sie bringt eine heimatliche<br />

Zugehörigkeit im Sinne von situierten<br />

Inkorporierungen notwendig hervor, und<br />

zwar unabhängig von allgemeinen Ansichten<br />

über Schönheit, Naturnähe und Gastlichkeit<br />

des betreffenden Raumausschnitts.<br />

II Eigenzeiten<br />

Jenseits der subjektiven Zeiten ist die heimatliche<br />

Landschaft vielfach in systemische<br />

Eigenzeiten eingebunden. Einige davon sollen<br />

im Folgenden skizziert werden, wobei<br />

ich durchgängig bei dem Beispiel der Streuobstwiesen<br />

im Schwäbischen bleibe. Denn<br />

Abb. 1: Tübingen gegen Süden betrachtet im 17. Jh.: Streuobstwiesen am Österberg und Schlossberg<br />

(Forstlagerbuch von Andreas Kieser 1683, Foto: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg,<br />

Archivnr. 28343).<br />

an diesem Bild lassen sich unterschiedliche<br />

natürliche und soziale Zeitrhythmen und<br />

Zeitlogiken sehr gut verdeutlichen, einschließlich<br />

der Probleme, die bei den Versuchen<br />

einer Synchronisation dieser Zeiten<br />

auftauchen.<br />

Der naturschützerischen und geographischen<br />

Gewohnheit folgend lassen sich zuerst<br />

einmal die großen natürlichen Prozesse anführen,<br />

die langfristige „deep time“ der geologischen<br />

und biologischen Entwicklungen.<br />

Erdgeschichtliche Prozesse bilden die<br />

Voraussetzung der landschaftlichen Großformen<br />

und der kalkigen Böden in der Region,<br />

die Stufen, die sich hier dem Blick<br />

präsentieren. Für die Landschaftsformen,<br />

die sich da stellvertretend eingeprägt haben,<br />

ist die Zeit ab dem Jura entscheidend, also<br />

etwa die letzten 140 Millionen Jahre. Die<br />

Verzahnung mit der langfristigen biologischen<br />

Entwicklung, mit evolutionären Prozessen,<br />

war mir in der Kindheit in Gestalt<br />

der Versteinerungen präsent, vor allem der<br />

Ammoniten, die wir in Steinbrüchen und an<br />

größeren Straßenbaustellen suchen gingen.<br />

Die kulturgeschichtliche Zeit scheint im<br />

Vergleich damit geradezu kurz. Doch gemessen<br />

am individuellen Leben sind große<br />

Teile der Region auch schon fast undenkbar<br />

lange genutzt worden, wie Relikte aus der<br />

Eisenzeit, der Römerzeit, dem Mittelalter,<br />

alte Rodungen in der Gegend usw. bezeugen.<br />

Die Obstbaumwiesen, um die es geht,<br />

sind ein Spezialfall dieser kulturgeschichtlichen<br />

und zugleich naturgeschichtlichen<br />

Zeit. In längerer Perspektive setzen sie erst<br />

einmal die Domestizierung dieser Obstarten<br />

außerhalb der Region voraus, dann später<br />

und örtlich viel relevanter die Entwicklung<br />

einer regionalen Sortenvielfalt bei Pflaumen,<br />

Äpfeln, Birnen; zu erwähnen vor allem<br />

die kleinen harten Mostbirnen (die unser<br />

dicker Briefträger immer sammelte, was<br />

die damaligen Eigenzeiten der Deutschen<br />

Bundespost noch erlaubten). Die Einpassung<br />

dieser Obstsorten in die kärgliche ländliche<br />

Ökonomie hat in der Region stellenweise<br />

schon im späten Mittelalter begonnen, sich<br />

aber wohl erst im 17. und 18. Jh. weithin<br />

durchgesetzt (vgl. KONOLD 1998, S. 283,<br />

s. Abb. 1).<br />

Die Praktiken und Regeln, die notwendig<br />

sind, um ein System wie die Streuobstwiesen<br />

über Jahrzehnte und Jahrhunderte zu<br />

erhalten, lassen sich als Zeit der Institutionen<br />

in einem weiteren soziologischen Zeitbegriff<br />

fassen. Der Begriff der Institution ist<br />

hier nicht im Sinne von administrativen<br />

Einrichtungen oder Organisationen verstanden,<br />

sondern in der umfassenderen Bedeutung<br />

aller Art sozialer Konventionen und<br />

Routinen. 1<br />

Dabei können wir uns Handlungen, die zur<br />

Konstitution solcher Institutionen führen,<br />

in ganz unterschiedlichen Subsystemen der<br />

Gesellschaft vorstellen; in Bezug auf die<br />

Streuobstwiesen etwa als bäuerliche Bräuche<br />

und Erfahrungswerte, wann man die<br />

Wiesen mäht oder beweidet. In längerem<br />

Zeithorizont muss auch eine soziale Ver-<br />

1 Nach der soziologischen Definition von<br />

FRIEDLAND & ALFORD (1991) etwa sind<br />

Institutionen „sowohl die Handlungsmuster,<br />

nach denen Menschen ihr materielles Leben<br />

in Raum und Zeit strukturieren, als auch die<br />

symbolischen Systeme, durch die sie diese<br />

Handlungen kategorisieren und mit Bedeutung<br />

füllen“ (S. 232, Übers. MF).

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