Druck - Deutscher Rat für Landespflege
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Schr.-R. d. Deutschen <strong>Rat</strong>es für <strong>Landespflege</strong> (2005), Heft 77, S. 67-76<br />
67<br />
Franz Höchtl und Susanne Lehringer<br />
Wildnis frisst Heimat<br />
– Erkenntnisse aus den piemontesischen Alpen<br />
„Wildnis“ als neues<br />
naturschutzfachliches Leitbild<br />
Angesichts des stetig zunehmenden Artenrückgangs<br />
rückt der mitteleuropäische Naturschutz<br />
seit den 1990er Jahren zunehmend<br />
von den traditionellen, statisch-konservierenden<br />
Managementkonzepten ab. Es<br />
werden Leitbilder diskutiert, die auf der<br />
Vorstellung einer weitgehend ungestörten<br />
Entwicklung der Ökosysteme beruhen<br />
(JESSEL 1997, JEDICKE 1998, BROGGI<br />
1999, ZUCCHI 2002). In diesem Zusammenhang<br />
entstand das Postulat, mehr<br />
unkontrollierte Dynamik von Lebensräumen<br />
im Sinne des Schutzes natürlicher Prozesse<br />
sowie des Entstehens von „Wildnis“ zuzulassen<br />
(ANL 1995, ANL 1997, PRIMACK<br />
1998, MASSA 1999). Die Wildnisdebatte<br />
kennzeichnen dabei eher emotionale Töne<br />
als ein sachlich-nüchterner Stil:<br />
Verwildernde Szenen werden mit einem<br />
Gefühl der Ursprünglichkeit assoziiert, die<br />
in sensiblen Menschen Mythen anklingen<br />
und Träume entstehen lassen (HINTER-<br />
MANN et al. 1995). Wildnis begegne dem<br />
Menschen in der wilden, unberührten, faszinierenden,<br />
Angst oder Ehrfurcht einflößenden<br />
Natur (BIBELRIETHER 1998). Die<br />
Vision von der Wildnis gleiche einem spirituellen,<br />
mystischen Aufbruch. Sie sei ein<br />
real, mental und transzendental erfassbares<br />
Faszinosum und ein Befreiungsschlag für<br />
unsere Seelen (WEINZIERL 1999).<br />
Die Untersuchungsgebiete<br />
In Rahmen von zwei Forschungsprojekten 1<br />
untersuchten wir diese Fragen in den<br />
Südwestalpen, dort wo das Spannungsfeld<br />
zwischen der Erhaltung von Kulturlandschaft<br />
einerseits und dem Zulassen<br />
ungelenkter Ökosystementwicklung andererseits<br />
besonders ausgeprägt ist. Während<br />
die ehemaligen Kastanienselven, terrassierten<br />
Weinberge, Wiesen und Weiden<br />
an den schwer zugänglichen Hängen der<br />
Haupt- und vieler Seitentäler entsprechend<br />
ihrer Höhenlage meist großflächig von<br />
Zwergstrauchheiden, Gebüschen oder Wäldern<br />
eingenommen werden, konnten sich<br />
bescheidene Reste der traditionellen Landnutzung<br />
um die Siedlungen sowie auf einigen<br />
Maiensässen und Almen bis heute behaupten.<br />
Dieser Landschaftswandel ist das<br />
Ergebnis eines langen Rückzugsprozesses,<br />
der bereits Mitte des 19. Jh. einsetzte und<br />
seinen Höhepunkt im Wirtschaftswunder<br />
der 1960er Jahre erreichte. Viele Bergbauern<br />
gaben die Land- und Waldwirtschaft<br />
damals endgültig auf, um einer lukrativeren<br />
Beschäftigung in der prosperierenden chemischen<br />
bzw. metallurgischen Industrie des<br />
Ossolatales bzw. um den Lago Maggiore<br />
nachzugehen.<br />
Die Untersuchungsgebiete befinden sich im<br />
oberen Stronatal sowie im Val Grande-Nationalpark<br />
(Abb. 1). Das Stronatal verläuft<br />
nahe dem Monte Rosa-Massiv nach Südos-<br />
1 Projekt 1: „Veränderung alpiner Landschaften<br />
bei Rückzug der Landnutzung am Beispiel<br />
des Val Grande-Nationalparks sowie<br />
des Stronatals – Von der Kulturlandschaft<br />
zur Wildnis“, von 1998-2003, gefördert von<br />
der Bristol-Stiftung in Zürich (HÖCHTL et<br />
al. 2005a).<br />
Projekt 2: „Agire o non agire: – Strategie<br />
future di conservazione per il Parco Nazionale<br />
della Val Grande“, von 2003-2004, gefördert<br />
aus Mitteln des Programms INTERREG 3A<br />
(HÖCHTL & LEHRINGER 2004).<br />
Auf diese und ähnliche Weise vermitteln<br />
zahlreiche Fachleute einer breiten Öffentlichkeit<br />
ihren „Traum von der Wildnis“<br />
(SCHAMA 1996). Die Begegnung mit den<br />
verlassenen Dörfern und den ausgedehnten<br />
brachliegenden Flächen in den Alpentälern<br />
auf der piemontesischen Seite des Monte<br />
Rosa und dem als „größtes Wildnisgebiet<br />
Italiens“ (OLMI 2002) beworbenen Val<br />
Grande-Nationalpark führte uns die Notwendigkeit<br />
vor Augen, eine sachliche Basis<br />
für die Bewertung des Leitbilds „Wildnis“<br />
zu schaffen. Es stellten sich die Fragen,<br />
welche Eigenschaft einer Landschaft die<br />
Empfindung von Wildnis wecken, welche<br />
Auswirkungen ungelenkte Naturentwicklung<br />
in der Europäischen Kulturlandschaft<br />
haben könnte und wie der Ruf nach<br />
mehr großflächiger Wildnis aus landespflegerischer<br />
Sicht zu bewerten ist.<br />
Abb. 1: Geographische Lage der Untersuchungsgebiete (UG).