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Druck - Deutscher Rat für Landespflege

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ständigung darüber sichergestellt sein, wie<br />

alt die Bäume werden sollen und auf welche<br />

Weise dafür gesorgt wird, dass sie nach 60<br />

bis 80 Jahren auch nachgepflanzt werden,<br />

oder was jeweils als geeigneter Rhythmus<br />

gilt. Dies setzt einigermaßen langlebige Institutionen<br />

im oben genannten Sinn voraus,<br />

ein gewisse Art von Wissenstransfer, soziale<br />

Verbindlichkeit über die Generationen<br />

usw.<br />

Mit dem Soziologen Anthony GIDDENS<br />

(1988) können wir diese Zeit der Institutionen<br />

als einen dritten Zeittyp identifizieren,<br />

den er in Abwandlung eines geschichtswissenschaftlichen<br />

Begriffs als „longue<br />

durée“ bezeichnet hat. Darunter versammelt<br />

er die wiederum mehr oder weniger<br />

repetitiven und routinisierten, aber zeitlich<br />

recht stabilen Muster sozialer Institutionen.<br />

(Im Gegensatz zur durée geht es hier also<br />

nicht um den individuellen Handlungsvollzug.)<br />

Aus dieser longue durée der Institutionen<br />

lassen sich nun eine Menge von<br />

Spezialfällen extrahieren, Zeiten, die als<br />

Systemzeiten bezeichnet werden können,<br />

insofern sie den verschiedenen Bereichen<br />

einer funktional differenzierten Welt zugehörig<br />

sind. Ich will am Beispiel der Streuobstwiesen<br />

nur auf zwei dieser Systemzeiten<br />

eingehen, weil sie besonders bedeutsam<br />

sind, nämlich diejenigen der Politik<br />

und der Wissenschaften.<br />

Systemzeit der Politik<br />

Die Systemzeit der Politik, oder besser, des<br />

politisch-administrativen Systems umfasst<br />

nicht nur allgemeine zeitliche Rahmenbedingungen,<br />

wie etwa die Dauer von Legislaturperioden<br />

oder den Geschäftsgang<br />

einer parlamentarischen Anfrage, sondern<br />

im vorliegenden Fall auch einzelne, zeitlich<br />

bestimmbare und in ihrer Dauer bestimmte<br />

Maßnahmen der Landwirtschaftspolitik in<br />

der EU bzw. EWG sowie einschlägige regionale<br />

Programme wie den „Generalplan zur<br />

Neuordnung des Obstbaus in Baden-<br />

Württemberg“. Allein diese beiden Faktoren<br />

werden für die Rodung von rund 15.000<br />

ha Streuobstwiesen in Baden-Württemberg<br />

zwischen 1957 und 1974 verantwortlich<br />

gemacht. Hinzu kamen dann noch entsprechende<br />

EWG-Verordnungen über die<br />

Qualitätsnormen für Tafeläpfel (1971),<br />

Ansprüche an Schalenqualität und ins-besondere<br />

an Größe, die einen Großteil der<br />

Ernte des Streuobstbaus von der Vermarktung<br />

als Tafelobst ausschlossen. Nach Schätzungen,<br />

die heute von der staatlichen<br />

Naturschutzverwaltung Baden-Württemberg<br />

verbreitet werden, ging hier allein in<br />

den 1960er und 1970er Jahren über ein<br />

Drittel der Streuobstwiesen verloren<br />

(BAUMHOF-PRETZIGER & LANGER<br />

1997, S. 8 f.). Die heimatlichen Streuobstwiesen<br />

vor meinem inneren Auge, Anfang<br />

der 1970er Jahre, stehen also, ohne dass ich<br />

das wusste, an einem politisch-ökonomischen<br />

Tiefpunkt ihrer Existenz.<br />

Eine politische Wende gab es hier erst ausgehend<br />

von den Biotopkartierungen der<br />

1980er Jahre, denen dann später auch<br />

Förderprogramme folgten, vor allem das<br />

Marktentlastungs- und Kulturlandschaftsprogramm<br />

(MEKA), die Ausweisung von<br />

Schutzgebieten, zuletzt die Ausweisung<br />

unter der FFH-Richtlinie bzw. dem<br />

Schutzgebietsnetz NATURA 2000 (bei der<br />

Baden-Württemberg gerade im Bereich der<br />

Streuobstwiesen einiges nachzubessern hatte).<br />

So wurden den ländlichen Modernisierungsprogrammen<br />

und Vermarktungseinschränkungen<br />

für „minderwertige“ Äpfel und Birnen<br />

ab Ende der 1980er Jahre Aufpreisinitiativen<br />

für Streuobst an die Seite gestellt,<br />

die in Zusammenarbeit mit den Erzeugern,<br />

teils mit Vertragslandwirten, bestimmte<br />

Marktnischen eröffnen sollen. Apfelsafttrinken<br />

für den Artenschutz: Die Rede von<br />

einer „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“<br />

in diesem Zusammenhang (ebd.) vernebelt<br />

aber gerade die tiefer gehende Ursache<br />

für die Gefährdung der Streuobstbestände,<br />

dass nämlich die Ziele des wirtschaftlichen<br />

Teilsystems mit denen des politischen<br />

Systems im Laufe der Zeit<br />

insgesamt immer weniger zur Deckung gebracht<br />

werden können. (Auch auf dieser<br />

Ebene kann die Heimat fast durchgängig als<br />

„Verlust“ beschrieben werden, solange es<br />

wirtschaftliche Veränderung gibt.) Die politisch-administrativen<br />

Regelungen bzw.<br />

formalen Institutionen, das ist die Pointe<br />

hier, zeigen ihren eigenen Rhythmus, ihre<br />

eigene Zeitlogik, eigene klare Brüche und<br />

Entkoppelungen, wenn die übergeordneten<br />

Ziele geändert werden. Daraus entstehen<br />

Verzögerungen und Verwerfungen gegenüber<br />

ökonomischen Prozessen, gegenüber<br />

sozialen Entwicklungen, und natürlich auch<br />

gegenüber wissenschaftlichen und technischen<br />

Entwicklungen, denen andere Systemzeiten<br />

innewohnen.<br />

Systemzeit der Wissenschaften<br />

Als Effekte wissenschaftlicher Systemzeiten<br />

sind nicht nur die Dauer und inhärente Dynamik<br />

der Erkenntnisgewinnung von Bedeutung,<br />

sondern auch die Kopplungen und<br />

Sperren zwischen ausdifferenzierten Teilsystemen<br />

innerhalb der Wissenschaft sowie<br />

zwischen der Wissenschaft und anderen<br />

Teilsystemen der Gesellschaft. Was die ökologische<br />

Bedeutung der Streuobstwiesen<br />

angeht, haben m. W. Ornithologen eine zeitliche<br />

Vorreiterrolle gehabt, erst etwas später<br />

folgten die Vegetationskundler nach. Mit<br />

ihrer langen Verbands-, Liebhaber- und<br />

Naturschutztradition waren die Vogelkundler<br />

jedoch fraglos sehr gut geeignet,<br />

ökologische „Resonanzen“ auch im politischen<br />

System zu erzeugen.<br />

Wenn wir von der Zeit der Wissenschaft<br />

sprechen, so wird aber ein zweiter Aspekt<br />

noch wichtiger, nämlich die zunehmende<br />

Selbstbeobachtung und Selbsthistorisierung<br />

der Wissenschaften im Zuge ihrer Ausdifferenzierung.<br />

Verfolgen wir den Weg<br />

von den Ursprüngen der Natur- und Heimatschutzbewegung<br />

bis heute, dann ergibt sich<br />

darin ein ganz besonderes Paradox, nämlich<br />

eine inhärente Zeitperspektive dieser Bewegung,<br />

die mit ihrer eigenen Entwicklung in<br />

der Zeit immer sichtbarer wird und im Zuge<br />

der Verwissenschaftlichung des Feldes zunehmend<br />

Widersprüche erzeugt. Ich will<br />

versuchen, das in wenigen Sätzen zu skizzieren:<br />

In den Anfängen des Natur- und Heimatschutzes,<br />

Ende des 19., Anfang des 20. Jh.,<br />

(so etwa bei Ernst Rudorff), finden wir ja<br />

bereits das Rückwärtsgewandte angelegt,<br />

sowohl was die Schutzgegenstände als auch<br />

was die implizierten Gesellschaftskonzepte<br />

angeht (OTT et al. 1999). 2 Die Ideale des<br />

Natur- und Heimatschutzes jedenfalls sind<br />

die Zustände, oder die vermeintlichen Zustände,<br />

vor dem Modernisierungsschub der<br />

industriellen Revolution, ein rurales, explizit<br />

anti-städtisches, oft auch anti-internationalistisches<br />

Bild. Dieses Bild, oder diese<br />

Bilder, schiebt der Natur- und Landschaftsschutz<br />

noch lange vor sich her, während<br />

er sich von den Riehl‘schen „Naturdenkmälern“<br />

hin zur modernen <strong>Landespflege</strong><br />

entwickelt. Diese Bilder sind auch lange<br />

Zeit noch anbindbar an reale Erfahrungen –<br />

der große Kahlschlag, gerade auf dem Lande,<br />

kommt ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg,<br />

wenn wir Motorisierungsziffern, Ausräumung<br />

der Landschaft, Höfesterben u. ä.<br />

Indikatoren betrachten. Zumindest in den<br />

Vorstellungen der Eltern, im familiären kollektiven<br />

Gedächtnis und in physischen Relikten<br />

noch bis in meine Generation hinein,<br />

sind die quasi vorindustriellen Landschaftsbilder<br />

auch noch im eigenen Lebenslauf<br />

anschlussfähig an die Erinnerung wie an die<br />

Inkorporierungen, von denen oben die Rede<br />

war.<br />

Im Laufe der wissenschaftlichen Zeit dieses<br />

Feldes jedoch wird das beklagte Jetzt, die<br />

2 Dies lässt sich in Zusammenhang bringen<br />

mit einem umfassenden Entwicklungs- und<br />

Historisierungsinteresse der Gesellschaft in<br />

den Wissenschaften, wie es auch in der Biologie,<br />

in der Geologie, der Archäologie und<br />

sogar der Psychologie in der zweiten Hälfte<br />

des 19. Jh. zum Ausdruck kommt.

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