stereoplay 35 Jahre (Vorschau)
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Musik Klassik<br />
VOKAL<br />
Giovanni Battista Pergolesi: Septem verba a Christo Akademie für Alte Musik Berlin, René Jacobs (2012)<br />
Pergolesi ist der Meister des schrumpfenden<br />
Werkkatalogs. Doch nicht immer<br />
entlarven Musikdetektive Fehlzuschreibungen,<br />
manchmal gelingt<br />
auch der umgekehrte Weg. So im Fall<br />
der „Septem verba a Christo“, eines<br />
Kantatenzyklus über die sieben Worte<br />
Jesu am Kreuz.<br />
Das Werk ist seit den 30er-<strong>Jahre</strong>n bekannt,<br />
doch erst jüngst konnte Reinhard<br />
Fehling es mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
dem Neapolitaner zuordnen.<br />
Vom „hohen Katheder des<br />
KLANGTIPP<br />
Musik: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Kreuzes“ he rab doziert Jesus hier in<br />
Klang: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ barockem Latein über den theologi-<br />
harmonia mundi 902155 (80:30)<br />
schen Sinn seiner letzten Worte. Das<br />
klingt nach trockenem Katechismus,<br />
gewinnt in der Vertonung mit hochdramatischen<br />
Accompagnato-Rezitativen<br />
und Da-Capo-Arien jedoch ergreifende<br />
Expressivität.<br />
Wo es gebührt, zünden René Jacobs<br />
und die Alte-Musik-Akademiker flammend-leidenschaftliches<br />
Seria-Brio.<br />
Prägender sind die ernsten, gedeckten<br />
Timbres in diesem farbenreichen<br />
Werk (unter anderem mit solistischen<br />
Bratschen, gedämpfter Trompete und<br />
Harfe), denen die Interpreten alle<br />
Kunst ausdrucksvoller Schattierung<br />
widmen. Konstantin Wolff singt einen<br />
baritonal-markigen, in der Tiefe<br />
manchmal mulmenden Christus-Bass,<br />
Sophie Karthäuser gelingen licht-dramatische<br />
Sopran-Seelentöne, der<br />
Kontratenor Christophe Dumaux gibt<br />
kehlig-femininen, manchmal etwas<br />
eckigen Laut, der Tenor Julien Behr<br />
gestaltet expressiv, doch mit begrenztem<br />
Schmelz. Das Werk ist eine Entdeckung,<br />
die Erstaufnahme mit geringen<br />
vokalen Abstrichen eine bewegende<br />
Klangpredigt.<br />
Martin Mezger<br />
KAMMERMUSIK<br />
Claude Debussy, Maurice Ravel und Camille Saint-Saëns: Streichquartette Quatuor Modigliani (2012)<br />
Wie Rhythmus und Farbe eins werden<br />
– das ist die Sensation dieser staunenswerten<br />
Quartett-Einspielung.<br />
Das Kopfthema des Debussy-Quartetts<br />
nehmen die Modiglianis kernig<br />
gespannt. Blitzschnell dann der Wechsel<br />
in den flimmernden Aggregatzustand<br />
des Seitenthemas, geradezu<br />
schwindelerregend die Vexiereffekte<br />
der Akzentdynamik.<br />
Ein glutvolles, mediterranes Temperament<br />
durchzieht die Interpretation<br />
KLANGTIPP und lässt sich doch nichts von der<br />
Musik: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Feinheit der Farben und Zwischentöne<br />
entgehen. Wie auf Kante gestellt<br />
Klang: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■<br />
Mirare MIR 188 (85:00, 2 CDs)<br />
und doch spielerisch klingt das Scherzo,<br />
brut wie Champagner statt trocken<br />
oder dürr. Im Andantino zeigen<br />
die Interpreten die hohe Kunst<br />
expressiver Agogik, im Finale herrscht<br />
leuchtende Klarheit mit einem bei allem<br />
Powerplay trefflich entspannten<br />
Schluss. Solch luzider Elan opfert<br />
auch Ravels Perpetuum-mobile-Finale<br />
nicht einfach dem Maschinenhaften,<br />
sondern lässt der Rasanz organischen<br />
Atem. Dieses kongeniale<br />
Sensorium für die innere Spannung<br />
der Musik bewährt sich ebenso im<br />
langsamen Satz, wo alle nostalgische<br />
oder verschattete Melancholie in den<br />
großen Bogen eingebunden bleibt.<br />
Und das Scherzo gerät mit seiner<br />
rhythmischen Pointierung zur imaginativen<br />
Collage der Extreme: Pizzicato-Holzschnitt<br />
und Kantilenen-<br />
Gouache. Alle Impressionismus-Klischees<br />
weichen in dieser hoch inspirierten,<br />
technisch superben Interpretation<br />
einer pulsierenden Leuchtkraft,<br />
die auch das e-moll-Opus des „konservativen“<br />
Saint-Saëns frisch klingen<br />
lässt.<br />
Martin Mezger<br />
KLASSIK-DVDs<br />
DVD / OPER<br />
Luigi Cherubini: Médée<br />
Virgin Classics 40424996 (193 Min., 2 DVDs)<br />
Michael, Streit, Stotijn, Le<br />
Texier, van Kerckhove u.a.;<br />
Les Talens Lyriques, Rousset.<br />
Regie: K. Warlikowski (2011)<br />
Typ: DVD / Blu-ray<br />
Tonformat: 2.0 / DTS 5.1<br />
Sprache: F<br />
Untertitel: D, E, F, NL<br />
Kunst: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■<br />
Ton: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■<br />
Bild: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■<br />
Eine alte Geschichte: Ein Mann trennt sich von<br />
seiner Frau und heiratet eine andere. Die Verlassene<br />
kann nicht loslassen und will die Kinder<br />
behalten. Aus Liebe wird Hass, Alkohol<br />
nährt die Rache, und am Ende sieht sie keinen<br />
anderen Ausweg mehr, als ihre Kinder zu töten<br />
und die Nebenbuhlerin gleich mit.<br />
Auch so lässt sich die antike Tragödie um Medea,<br />
Jason und Dircé erzählen, wie Krzysztof<br />
Warlikowski an der Brüsseler Monnaie gezeigt<br />
hat: eine Inszenierung, die in ihrem beinahe<br />
schäbigen Dekor und im Alltag der Figuren<br />
zwar einen denkbar scharfen Kontrast zu Cherubinis<br />
klassizistisch-erhabener Musik (von<br />
1797) und der Größe der Gefühle bildet, aber<br />
durch die schauspielerische Präsenz besticht.<br />
Leider sind die Stimmen durchweg zu schwer<br />
für diese erste Version auf historischen Instrumenten,<br />
die Christophe Rousset in bewährter<br />
Qualität mit seinen Talens Lyriques realisiert<br />
hat. Nadja Michael in der Titelpartie kann sich<br />
nicht zwischen Mezzo- und Sopran-Register<br />
entscheiden, Kurt Streit als Jason klingt angestrengt,<br />
die Amme Néris von Christianne Stotijn<br />
„wobbelt“ – schade! Oder ist es nur die Erinnerung<br />
an Maria Callas (sie hat Cherubinis<br />
Oper vor 60 <strong>Jahre</strong>n dem Vergessen entrissen),<br />
die hier die Messlatte zu hoch legt?<br />
Michael Stegemann<br />
DVD / ORGEL<br />
The Genius of Cavaillé-Coll<br />
Roth, Latry, Bouvard, Brooks,<br />
Griveau u. a., Regie: Will<br />
Fraser (2012)<br />
Typ: DVD<br />
Tonformat: 2.0, DTS 4.1/5.1<br />
Sprache: E<br />
Untertitel: D, E, F<br />
Kunst: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■<br />
Ton: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■<br />
Bild: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■<br />
Fugue State Films / Naxos FSFDVD007 (3 DVDs, 2 CDs)<br />
Die mehr als 500 Instrumente des Aristide Cavaillé-Coll<br />
(1811 bis 1899) gehören zum Großartigsten<br />
und Schönsten, was es weltweit an<br />
Orgeln zu hören gibt. Die französische Orgel-<br />
Sinfonik (Franck, Widor, Vierne, Dupré & Co.)<br />
wäre ohne seine Meisterwerke nicht denkbar,<br />
und jeder, der je die Orgel von Saint-Sulpice<br />
in Paris, Saint-Ouen in Rouen oder Saint-<br />
Sernin in Toulouse live erlebt hat, wird das nie<br />
wieder vergessen.<br />
Die opulente Dokumentation des englischen<br />
Regisseurs Will Fraser zeichnet Leben und<br />
Werk Cavaillé-Colls nach, stellt 18 seiner wichtigsten<br />
Orgeln vor (gespielt von Daniel Roth,<br />
Olivier Latry und anderen Star-Organisten, die<br />
die Besonderheiten des jeweiligen Instruments<br />
vorführen) und bietet auf drei DVDs und zwei<br />
CDs einen wunderbaren Querschnitt durch<br />
die sinfonische Orgelmusik des 19. und 20.<br />
Jahrhunderts – in bester Surround-Klangqualität,<br />
die einem wenigstens eine Ahnung der<br />
Klangwirkung im Kirchenraum vermittelt; dazu<br />
gibt es ein detailliertes und reich bebildertes<br />
Booklet mit allen Dispositionen.<br />
Filmisch manchmal ein bisschen spröde, aber<br />
informativ und materialreich, und für jeden<br />
Orgel-Liebhaber ohnehin ein absolutes<br />
Muss!<br />
Michael Stegemann<br />
160 5/13 <strong>stereoplay</strong>.de