Der Lehrer wird's schon richten,... - Adolf-Reichwein-Verein
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eichwein forum Nr. 8 / Juli 2006<br />
le, ist jedoch nicht darauf beschränkt. Auch zögert man<br />
überhaupt, bei ihm von musischem Unterricht zu sprechen.<br />
<strong>Reichwein</strong>s Schulpädagogik ist derart ganzheitlich,<br />
übergreifend strukturiert und verwoben, dass man<br />
wohl eher von den �musischen Elementen� seines Unterrichts<br />
oder einem musisch-ästhetischen Bildungsansatz<br />
reden sollte. Denn selbstverständlich ist die Schularbeit<br />
<strong>Reichwein</strong>s in den musischen (dazu zählt er auch die<br />
Gymnastik) Lehrinhalten etwas ganz anderes, als das,<br />
was vermutlich viele von uns in der Schule als Unterricht<br />
in den klassischen musischen Fächern erlebt haben.<br />
Fächer, wie �Kunst�, �Musik� oder �Werken� kommen in<br />
seinem Jahresplan ja auch folgerichtig gar nicht vor.<br />
<strong>Reichwein</strong>s Ästhetik-Ansatz ist nicht vordergründig, es<br />
geht ihm nicht um das zweckfrei Schöne und Harmonische,<br />
nicht darum, zum Sinn für das Schöne zu erziehen<br />
und einfach Fertigkeiten in den musischen Fächern zu<br />
vermitteln, sondern fächerübergreifend Kenntnisse, im<br />
handwerklichen Schaffen, im gemeinsamen Erleben, im<br />
Erkunden; es wird gesehen, gehört, gestaltet, begriffen.<br />
Sein ästhetische Ansatz ist ein sozialer, ist der typische<br />
sozialphilosophische des 20. Jahrhunderts, der die soziale<br />
Rolle der Kunst in den Vordergrund stellt. Das geht<br />
daher über den musisch-ästhetischen Bereich hinaus, er<br />
verwendet den Begriff �Form� auch außerhalb der musischen<br />
Betrachtungen sehr vielfältig. Er setzt ihn nicht<br />
nur für die sichtbare Gestalt eines Objekts ein, sondern<br />
ständig auch ganz allgemein im Sinne von �Zustand�<br />
oder �Beschaffenheit� eines Phänomens oder Verhältnisses.<br />
Wie in all seinen Unterrichtsbemühungen bindet<br />
<strong>Reichwein</strong> die musischen Aspekte ein in die Demonstration<br />
der großen Zusammenhänge. Die �Form� ist mehr,<br />
als bloß ästhetisches Element, sie ist sozial gedachter<br />
Ansatz, um den Kosmos im Kleinen und Großen zu demonstrieren,<br />
Form ist Bildungsmittel. Zeige stets den<br />
Wert des Einzelelements für das Ganze, ob in der Natur,<br />
im sichtbaren Kunstwerk, oder im hörbaren: <strong>Der</strong> Wert<br />
des Tons für die Melodie, für den mehrstimmigen Satz<br />
(Schaffendes Schulvolk).<br />
Drei Beispiele, wie das alles in der Unterrichtsgestaltung<br />
miteinander verwoben wird:<br />
Es wird auf Flöten musiziert. Aber wen wundert es, dass<br />
diese Flöten natürlich selbst gebaut werden (Werkunterricht),<br />
und als Material Sonnenblumenstiele dienen<br />
(Kenntnisse über den Bau der Pflanze: Biologie). Beim<br />
Bohren der Tonlöcher schließlich lernen wir etwas über<br />
den Einfluss des Luftstroms auf die Bildung der Töne<br />
(Physik), lernen, wie aus einzelnen Tönen unterschiedliche<br />
Melodien werden - etwas Neues entsteht.<br />
Vor das Theaterspiel hat der Herr <strong>Lehrer</strong> den Schweiß<br />
gesetzt, es ist wieder Werken angesagt: Wir bauen Laternen<br />
für das Theaterspiel. Dabei lernen wir beim Berechnen<br />
der Flächen Geometrie, beim Errechnen der<br />
erforderlichen Zahl der Einzelteile Mathematik.<br />
Wenn gemalt wird, dann nach Möglichkeit in der Natur,<br />
denn dort gibt es wieder mannigfach Objekte, die wir mit<br />
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unserer ländlichen Umwelt und anderen Vorhabenelementen<br />
verbinden können. <strong>Der</strong> Scherenschnitt ist besonders<br />
geeignet, um Formen der Natur prägnant und<br />
abstrahierend zu erfassen � siehe Dexels �Silhouette�.<br />
Und was <strong>Reichwein</strong> im �Schaffenden Schulvolk� über die<br />
�Form� sagt, führt uns zurück zu Walter Dexel und der<br />
beschriebenen Utopie des Bauhauses. Dafür soll hier<br />
zum Schluss ein nur wenig gekürzter Text <strong>Reichwein</strong>s<br />
stehen:<br />
�Vom Sehen.<br />
Beim Einfachsten beginnt es. Eine neue Sicherheit im<br />
Erfassen von Formen und in der Formgebung muß gewonnen<br />
werden. Die Schlichtheit und innere Geschlossenheit,<br />
die überzeugende Formkraft allen Geräts, vergangenen<br />
Hausbaus, landeigener Kleidung, kann nur<br />
durch eine Erziehung zu einfachen Formen erneuert<br />
werden. Und zwar muß dies vom Kinde her geschehen.<br />
<strong>Der</strong> Zerfall des Wertgefühls für Farbe und Form ist in<br />
allen Dingen so vollkommen, dass es von Grund auf neu<br />
erworben werden muß. Wenn wir aber auch nur die Anfänge<br />
einer ländlichen Geschmacksbildung wiedergewinnen<br />
wollen, müssen wir bei der Jugend beginnen.<br />
Denn die Kinder sind noch nicht verdorben durch Kitsch<br />
und ein landfremdes Form- und Farbenwesen. Wenn die<br />
Erneuerung einer ländlichen Wohn-, Geräte- und Kleidkultur<br />
noch einmal gelingen soll, muß sie - ebenso wie<br />
eine künftige Musik- und Gesellschaftskultur auf dem<br />
Lande - in einem neuen Wertempfinden der Jugend begründet<br />
werden. Es gehört also zu den dringenden Anliegen<br />
unserer Erziehung, durch ein häufiges Anschauen<br />
von einfachen volkstümlichen Formen, durch eine reichhaltige,<br />
immer wieder auf Form- und Farbwertigkeit bezogene<br />
Bildbetrachtung, vor dem inneren Auge des Kindes<br />
einen solchen Schatz von volkstümlichen Gestaltungen<br />
anzusammeln, daß ihm daran, auch ohne eindringendes<br />
Verstehen, ein Licht aufgeht: so schlicht und<br />
sachbezogen - so "naiv" würden wir vielleicht sagen -, so<br />
innerlich sinnvoll und zweckmäßig nach außen, so kräftig<br />
und ungeziert sollen die Gegenstände sein, mit denen<br />
ich umgehe: Kleid und Schmuck, das Haus nach<br />
außen und die Stube nach innen. Und aus dieser wiedergewonnenen<br />
Sicherheit im Urteil ergibt sich auch die<br />
neue Wertung, die ebenso streng in der Ablehnung aller<br />
Geschmäcklerei wie in der Hinwendung zu einfachem<br />
Lebensstil sein wird. [...] Immer wieder wird die Aufmerksamkeit<br />
des Auges auf die Einfachheit der Mittel<br />
gelenkt [...] Eine Schönheit, die vor allem echt ist und<br />
hingehörig, nicht nachgeäfft - und darum schlechter als<br />
die fremden Urbilder -, sondern eigenwüchsig.<br />
[...] Es kann sich nirgends um die billige Übernahme alter<br />
und ausgelebter Formen handeln, sondern es geht<br />
um deren Erneuerung, nach den unabänderlichen Gesetzen<br />
allerdings, die den volksgebundenen Formen<br />
zugrunde liegen. [...] Es gibt schlechterdings kein Feld<br />
unserer Arbeit, das zu dieser Formenkunde nichts beizu-