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Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2010 - Ärztekammer ...

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Medizin und Wissenschaft<br />

John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse<br />

Von der frühen Entwicklung zur<br />

künstlerischen Kreativität<br />

„Psychoanalyse und Kreativität - vom schöpferischen Potenzial der frühen<br />

Beziehungen“ lautete das Thema in der Vortragsreihe des Instituts zum Jahresbeginn.<br />

Die Referentin Dr. Christel Böhme-Bloem, deren Forschungsfeld<br />

die Symbolbildung ist, stellte zunächst<br />

den kreativen Prozess in der Entwicklung eines jeden<br />

Menschen dar. Dabei griff sie auf Donald Winnicott,<br />

Wilfred Bion, die Säuglings- und Mentalisierungsforscher<br />

und auf einige neurobiologische Erkenntnisse<br />

zurück. Danach wandte sie sich den Bedingungen für<br />

den schöpferischen Akt in Kunst und Therapie zu und<br />

versuchte zum Schluss, über die Interpretation eines<br />

kleinen romantischen Gedichts dem „Ergriffensein“<br />

im Rezeptionsprozess auf die Spur zu kommen.<br />

Im Wort Kreativität steckt das Verb „creare“ – „schaffen,<br />

etwas aktiv gestalten“ -, was der abendländischen<br />

Haltung zur Welt entspricht, während das verwandte<br />

Verb „crescere“ - „wachsen lassen“ - eher die meditative<br />

morgenländische Philosophie widerspiegelt. Der<br />

Schöpfungsmythos der Bibel zeigt die Menschen als<br />

Geschöpfe Gottes im Paradies, vergleichbar dem intrauterinen<br />

Dasein. Durch das Essen vom verbotenen<br />

Baum der Erkenntnis wird sich der Mensch seiner Möglichkeiten<br />

und Grenzen, seiner Sterblichkeit bewusst<br />

und versucht, schöpferisch etwas gegen die Vergänglichkeit<br />

zu setzen und dadurch Begrenztheit in Ewigkeit,<br />

Ohnmacht in Gestaltungsmacht zu verwandeln.<br />

Sigmund Freud, der kreative „Schöpfer“ der Psychoanalyse,<br />

zeigte sich dem Phänomen des Schöpferischen<br />

gegenüber eher skeptisch. Gelänge es ihm<br />

nicht, Kunstwerke, die eine starke Anziehung auf ihn<br />

ausübten, auf seine Weise zu erfassen, so sei er fast<br />

genussunfähig. Seine rationalistische, analytische<br />

Anlage sträube sich in ihm dagegen, dass er ergriffen<br />

sein sollte, ohne zu begreifen, warum.<br />

Nach den frühen Freudschülern Otto Rank und Sandor<br />

Ferenczi zeigten besonders Michael Balint, Wilfred<br />

Bion und Donald Winnicott, dass die seelische<br />

Entwicklung untrennbar mit Kreativität verbunden<br />

ist. Winnicott beschreibt in seiner Arbeit „Vom Spiel<br />

zur Kreativität“, wie in der Entwicklung des Mutter-<br />

Kind-Paares zum psychischen Innenraum und zum<br />

Außenraum der realen Welt ein dritter Bereich, der<br />

56 <strong>Schleswig</strong>-<strong>Holsteinisches</strong> <strong>Ärzteblatt</strong><br />

sogenannte Intermediär- oder Übergangsraum hinzukommt,<br />

eine Sphäre, „in der das Individuum ausruhen<br />

darf von der lebenslänglichen Aufgabe, innere<br />

und äußere Realität getrennt zu halten.“ Dieser intermediäre<br />

Erfahrungsbereich begründe den größeren<br />

Teil der kindlichen Erfahrungen und bleibe das ganze<br />

Leben für außergewöhnliche Erfahrungen im Bereich<br />

der Kunst, der Religion, der Imagination und der<br />

schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit erhalten.<br />

Übergangsphänomene und Übergangsobjekte wie<br />

etwa das Nuckeln, der Teddy oder das Schmusetuch<br />

sind vom Kind (kreativ) „gefundene“ Betätigungen<br />

oder Gegenstände, die sowohl die Anwesenheit<br />

als auch die Abwesenheit der Mutter symbolisieren<br />

und in Trennungssituationen oder beim Einschlafen<br />

unersetzliche Tröster werden.<br />

Der Tastsinn, anfangs der zentrale Sinn, vermittelt<br />

dem Säugling über die Wahrnehmung der Art, wie<br />

er gehalten, berührt und getragen wird, die sog. Vitalitätsaffekte.<br />

Säuglinge verfügen außerdem über<br />

eine angeborene Fähigkeit, Wahrnehmungen unterschiedlicher<br />

Sinnesorgane miteinander zu verbinden,<br />

die Fähigkeit zur transmodalen Wahrnehmung.<br />

Mit der Entdeckung der Spiegelneurone wurde das<br />

neurobiologische Substrat hierfür gefunden. Diese<br />

Spiegelneurone sorgen auch für ein implizites Wissen<br />

über den anderen, oder, wie Joachim Bauer es<br />

mit dem Titel seines Buches beschreibt: „Warum ich<br />

fühle, was du fühlst“.<br />

Über die eingefühlte Affektabstimmung übersetzt die<br />

Mutter die vom Säugling aufgenommenen „rohen“<br />

Affekte, zum Beispiel beim angestrengd-lustvollen<br />

Heben eines Bauklotzes, verdichtet und transmodal<br />

verschoben beispielsweise in Laute wie hier „Uuuuh!“<br />

oder in Begriffe und „füttert“ sie dadurch „verdaut“<br />

zurück. Verdichtung und Verschiebung sind<br />

die für das Unbewusste charakteristischen Prozesse<br />

und werden – symboltheoretisch gesprochen – so zu<br />

Prozessoren der semiotischen Progression, d. h., sie<br />

befördern letztlich die Übersetzung in Bewusstsein,

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