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Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2010 - Ärztekammer ...

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Medizin und Wissenschaft<br />

� Neue Paralysen bzw. Paresen<br />

� Neue Muskelatrophien<br />

� Respirationsstörungen<br />

� Temperaturregulationsstörungen mit besonderer<br />

Kälteempfindlichkeit<br />

� Gleichgewichtsstörungen mit Sturzneigung peripherer<br />

wie zentraler Genese<br />

� Schluck- und Sprechstörungen<br />

� Kreislaufregulationsstörungen<br />

� Haut- und Muskelbrennen mit motorischer Unruhe<br />

� Neigung zu Muskelkrämpfen, Myofaszikulationen,<br />

Myofibrillationen, Restless-Leg Symptomatik<br />

� Schlafstörungen.<br />

Die genannten und weitere Symptome können einzeln<br />

oder in unterschiedlichen Kombinationen und<br />

Ausprägungen auftreten. Keines muss zwingend<br />

vorhanden sein.<br />

Nicht selten ist eine physische oder psychische Belastungsabhängigkeit<br />

erkennbar, aber nicht Bedingung.<br />

Physiologische Belastung bedeutet in der Regel<br />

schon Überforderung. Nach BRUNO ist Stress<br />

auf der Basis neurogener Defekte die zweithäufigste<br />

Ursache für PPS-Symptome.<br />

Über solche Poliomyelitisspätfolgen wurde kasuistisch<br />

z.B. durch CHARCOT bereits 1875 in Frankreich<br />

berichtet. Ihre Pathogenese ist nach wie vor<br />

teilweise von hypothetischem Charakter. Es fehlt an<br />

einer umfassenden und allgemein anerkannten Erklärung<br />

ihres Ursachenspektrums. Hier sind die zelluläre<br />

und die molekulare Ebene noch weitgehend<br />

unklar. Unbestritten ist der periphere Teilaspekt, das<br />

PPS als Verschleiß des mangelhaften neuromuskulären<br />

Komplexes durch absolute wie relative Überlastung<br />

zu werten. Er kann alle Muskeln im facialen,<br />

oralen, pharyngealen, laryngealen, Rumpf- und Extremitätenbereich<br />

betreffen. Dabei ist nach den kausalen<br />

Lokalisationspunkten zwischen peripher- wie<br />

zentral-neuropathischen und sekundär-myopathischen<br />

Symptomen zu unterscheiden. Nach letzteren<br />

kann kompensierende Muskulatur auch direkt in<br />

einen Insuffizienzzustand geraten. Allgemeiner Ausgangspunkt<br />

ist die Schädigung oder Zerstörung einer<br />

relativ großen Zahl spinaler Motoneurone durch<br />

die Polioviren. Ab einem Neuronenverlust von 50<br />

ist der funktionelle Ausfall nicht mehr kompensierbar<br />

und wird klinisch. Das trifft auf die PM mit ihren<br />

Frühfolgen sowie auf das PPS zu. Unter diesem Gesichtspunkt<br />

existiert bei einer unterschwelligen Dekompensation<br />

auch ein subklinisches bzw. klinisch<br />

asymptomatisches PPS. Nicht selten können deswe-<br />

60 <strong>Schleswig</strong>-<strong>Holsteinisches</strong> <strong>Ärzteblatt</strong><br />

gen im Verlauf subjektive den objektivierbaren Symptomen<br />

vorangehen.<br />

Poliobedingte Schäden des Gehirns mit ihren Auswirkungen<br />

in Form des PPS gewinnen bei in der Literatur<br />

zur Genüge nachgewiesener pathophysiologischer<br />

Grundlage zunehmend an Interesse, um zentrale<br />

Symptome regulativer Art auf den Gebieten von<br />

Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Respiration,<br />

kardiovaskulärer Steuerung, Temperaturregulation,<br />

Schmerzverarbeitung, Gleichgewichtsregulation<br />

usw. einer Erklärung zuzuführen. Auch hier wäre an<br />

eine Verschleißdegeneration der vorgeschädigten<br />

Struktur zu denken.<br />

Wenn aus den neuerlichen Symptomen das PPS<br />

als Diagnose gestellt werden soll, sind aus heutiger<br />

Sicht folgende Kriterien zugrunde zu legen, nach denen<br />

es differenzialdiagnostisch in Erwägung zu ziehen<br />

ist:<br />

1. Eine frühere Poliomyelitiserkrankung mit oder<br />

ohne direkte klinische Folgen ist aus der Anamnese<br />

bekannt oder durch Befunde gezielter Diagnostik<br />

wahrscheinlich.<br />

2. Zwischen dem Zeitpunkt der sicheren oder wahrscheinlichen<br />

Infektion und dem Auftreten neuerlicher<br />

postpolioverdächtiger Beschwerden liegt<br />

eine klinisch stabil erscheinende Phase.<br />

3. Für die nunmehr auftretenden Krankheitserscheinungen<br />

gibt es keine erkennbar andere Ursache.<br />

Wichtigste Grundlage der Diagnostik ist die sorgfältig<br />

und mit Sachkunde erhobene Anamnese.<br />

Ihr kommt das Hauptgewicht bei der spezifischen<br />

Differenzierung zu.<br />

Das Erscheinungsbild der Polio-Spätfolgen ist mit<br />

der komplexen Kausalität in seiner Ausprägung nach<br />

Art und Stärke vielfältig und auf den Patienten bezogen<br />

sehr individuell. Das erklärt auch die uneinheitlichen,<br />

teilweise widersprüchlichen Ergebnisse medizinischer<br />

Studien zu diesem Thema. Trotzdem sind<br />

gerade deswegen deren Aussagen nicht pauschal in<br />

Zweifel zu ziehen. Die Existenz der eigenständigen<br />

Erkrankung PPS gilt als bewiesen und ist auf keinen<br />

Fall infrage zu stellen.<br />

In einer Aussage von HALSTEAD und GRIMBY stellt<br />

sich das PPS als interdisziplinär-diagnostisches<br />

Problem mit hohem differenzialdiagnostischen Aufwand<br />

dar:<br />

1. Ein pathognomonischer Test existiert nicht.<br />

2. Die Symptome sind überwiegend subjektiv und<br />

sehr allgemein.<br />

3. Es gibt kein eindeutig spezifisches Symptommuster.

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