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Günter Reuel<br />

Selbstkontrolle vrs. Eigenverantwortung<br />

Für Norbert Elias, den großen Theoretiker der Zivilisation,<br />

war es eine Fähigkeit des Menschen, die<br />

den Fortschritt ermöglichte und auch in Zukunft<br />

ermöglichen wird: die über Jahrhunderte weiter<br />

entwickelte Selbstkontrolle. Der Steinzeitmann<br />

stürzte sich auf das Objekt seiner Begierde; heutige<br />

Freier laden zum Essen ein, machen Geschenke<br />

und schreiben schmachtende Briefe (Mails).<br />

Täglich erleben Lehrer, wie Schüler bei der Essenausgabe<br />

den Ellbogen benutzen, Müll möglichst<br />

bequem „entsorgen“, sich vor Leistungsanforderungen<br />

drücken und Täuschungen nicht scheuen.<br />

Ein Unrechtsbewusstsein ist durchaus vorhanden,<br />

die Selbstkontrolle jedoch ist schwach, ja, sie versagt.<br />

Ein Unwort hat in der Pädagogik enorme Verbreitung<br />

erfahren. Es heißt „Eigenverantwortung“. Die<br />

ermüdenden „Kompetenzlisten“ sind voll davon.<br />

Verantwortung übernimmt man immer für irgendetwas.<br />

Subjekt und Objekt gilt es zu trennen, wenn<br />

ein zirkulärer Schluss vermieden werden soll.<br />

ELIAS`s zentraler Begriff der Selbstkontrolle<br />

könnte in der Pädagogik Karriere machen. Ein<br />

Schüler, der mutwillig Teile des Schulgebäudes<br />

beschädigt, findet Ausreden und benutzt zunächst<br />

immer das Stereotyp: „Können Sie mir das beweisen?“<br />

Ein Appell an seine Verantwortung stößt auf<br />

Unverständnis. Irgendjemand bezahlt ja die Schule<br />

und seine Eltern haben möglicherweise eine<br />

Dienstleistungserwartung an die Schule, die diese<br />

angeblich nicht erfüllt. Damit ist das Konstrukt<br />

Verantwortung fast suspendiert.<br />

Selbstkontrolle ist eine erlernbare kognitive Fähigkeit,<br />

sie ist objektivierbar und intersubjektiv<br />

überprüfbar. Verantwortung bleibt weitgehend eine<br />

subjektiv auslegbare Sache, sieht man einmal von<br />

den justitiablen Fällen ab.<br />

Wir wollen Verantwortung als kategorischen Imperativ<br />

nicht infrage stellen. Das noch zusätzlich<br />

zum Religionsunterricht eingeführte Pflichtfach<br />

Ethik wird hoffentlich Früchte tragen. Aber mit<br />

den Überlegungen zur Selbstkontrolle sollten wir<br />

schon mal anfangen. Jeder Handlung gehen Entscheidungen<br />

voraus, die mehr oder weniger gründliche<br />

Überlegungen implizieren. Ausgesprochene<br />

Affekthandlungen, in ohnmächtiger Wut oder Verzweiflung<br />

begangen, lassen wir beiseite.<br />

• Ich nehme mir noch mal eine Portion von dem<br />

leckeren Nudelsalat.<br />

• Ich sehe einen scharfen Gegenstand auf dem<br />

Werkstattboden liegen.<br />

• Ich ziehe das Hemd mit dem nur noch an einem<br />

Faden hängenden Knopf heut noch mal an.<br />

• Ich schalte mal den Fernseher an.<br />

• Ich bringe die Pfandflasche nicht zurück, gibt<br />

nur 8 Cent.<br />

• Der Unterricht langweilt mich, ich ritze jetzt<br />

schon das dritte Herz in die Werkbank.<br />

• Ich fahre an dieser Ecke immer bei Rot mit<br />

meinem Fahrrad rüber.<br />

• Ich soll mich um einen Praktikumsplatz<br />

kümmern, weiß aber nicht wie.<br />

Jede dieser kleinen Alltagshandlungen bzw. aufgeschobenen<br />

Handlungen lässt sich auf Folgen und<br />

Motive befragen. Die Fragen muss wahrscheinlich<br />

anfangs ein Externer stellen, bevor sie internalisiert<br />

werden.<br />

• Ist die Handlung evtl. nicht günstig für meine<br />

körperliche Verfassung?<br />

• Ist die Handlung eine Ersatzhandlung, weil ich<br />

dringenden Aufgaben ausweichen möchte?<br />

• Kann ich durch meine Handlung Gefahren<br />

vermeiden bzw. durch Unterlassung andere<br />

und mich gefährden?<br />

• Ist meine Handlung Umwelt schonend?<br />

• Kann durch meine Handlung die Werterhaltung<br />

einer Sache befördert werden?<br />

• Wird durch meine Handlung Sachschaden<br />

angerichtet, den andere bezahlen müssen oder<br />

der die Gemeinschaft aller belastet?<br />

• Fehlen mir Informationen, die meine Antriebskräfte<br />

stärken würden?<br />

Bei einem Handlungstyp, dem kommunikativen<br />

Handeln, sind Fragen an die Rechtfertigung des<br />

Gesagten unverzichtbar. Fremdenfeindliche Äu-<br />

66<br />

Forum Arbeitslehre 9 Arbeitslehre Werkstätten Nov <strong>2012</strong>

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