2/2012
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Günter Reuel<br />
Selbstkontrolle vrs. Eigenverantwortung<br />
Für Norbert Elias, den großen Theoretiker der Zivilisation,<br />
war es eine Fähigkeit des Menschen, die<br />
den Fortschritt ermöglichte und auch in Zukunft<br />
ermöglichen wird: die über Jahrhunderte weiter<br />
entwickelte Selbstkontrolle. Der Steinzeitmann<br />
stürzte sich auf das Objekt seiner Begierde; heutige<br />
Freier laden zum Essen ein, machen Geschenke<br />
und schreiben schmachtende Briefe (Mails).<br />
Täglich erleben Lehrer, wie Schüler bei der Essenausgabe<br />
den Ellbogen benutzen, Müll möglichst<br />
bequem „entsorgen“, sich vor Leistungsanforderungen<br />
drücken und Täuschungen nicht scheuen.<br />
Ein Unrechtsbewusstsein ist durchaus vorhanden,<br />
die Selbstkontrolle jedoch ist schwach, ja, sie versagt.<br />
Ein Unwort hat in der Pädagogik enorme Verbreitung<br />
erfahren. Es heißt „Eigenverantwortung“. Die<br />
ermüdenden „Kompetenzlisten“ sind voll davon.<br />
Verantwortung übernimmt man immer für irgendetwas.<br />
Subjekt und Objekt gilt es zu trennen, wenn<br />
ein zirkulärer Schluss vermieden werden soll.<br />
ELIAS`s zentraler Begriff der Selbstkontrolle<br />
könnte in der Pädagogik Karriere machen. Ein<br />
Schüler, der mutwillig Teile des Schulgebäudes<br />
beschädigt, findet Ausreden und benutzt zunächst<br />
immer das Stereotyp: „Können Sie mir das beweisen?“<br />
Ein Appell an seine Verantwortung stößt auf<br />
Unverständnis. Irgendjemand bezahlt ja die Schule<br />
und seine Eltern haben möglicherweise eine<br />
Dienstleistungserwartung an die Schule, die diese<br />
angeblich nicht erfüllt. Damit ist das Konstrukt<br />
Verantwortung fast suspendiert.<br />
Selbstkontrolle ist eine erlernbare kognitive Fähigkeit,<br />
sie ist objektivierbar und intersubjektiv<br />
überprüfbar. Verantwortung bleibt weitgehend eine<br />
subjektiv auslegbare Sache, sieht man einmal von<br />
den justitiablen Fällen ab.<br />
Wir wollen Verantwortung als kategorischen Imperativ<br />
nicht infrage stellen. Das noch zusätzlich<br />
zum Religionsunterricht eingeführte Pflichtfach<br />
Ethik wird hoffentlich Früchte tragen. Aber mit<br />
den Überlegungen zur Selbstkontrolle sollten wir<br />
schon mal anfangen. Jeder Handlung gehen Entscheidungen<br />
voraus, die mehr oder weniger gründliche<br />
Überlegungen implizieren. Ausgesprochene<br />
Affekthandlungen, in ohnmächtiger Wut oder Verzweiflung<br />
begangen, lassen wir beiseite.<br />
• Ich nehme mir noch mal eine Portion von dem<br />
leckeren Nudelsalat.<br />
• Ich sehe einen scharfen Gegenstand auf dem<br />
Werkstattboden liegen.<br />
• Ich ziehe das Hemd mit dem nur noch an einem<br />
Faden hängenden Knopf heut noch mal an.<br />
• Ich schalte mal den Fernseher an.<br />
• Ich bringe die Pfandflasche nicht zurück, gibt<br />
nur 8 Cent.<br />
• Der Unterricht langweilt mich, ich ritze jetzt<br />
schon das dritte Herz in die Werkbank.<br />
• Ich fahre an dieser Ecke immer bei Rot mit<br />
meinem Fahrrad rüber.<br />
• Ich soll mich um einen Praktikumsplatz<br />
kümmern, weiß aber nicht wie.<br />
Jede dieser kleinen Alltagshandlungen bzw. aufgeschobenen<br />
Handlungen lässt sich auf Folgen und<br />
Motive befragen. Die Fragen muss wahrscheinlich<br />
anfangs ein Externer stellen, bevor sie internalisiert<br />
werden.<br />
• Ist die Handlung evtl. nicht günstig für meine<br />
körperliche Verfassung?<br />
• Ist die Handlung eine Ersatzhandlung, weil ich<br />
dringenden Aufgaben ausweichen möchte?<br />
• Kann ich durch meine Handlung Gefahren<br />
vermeiden bzw. durch Unterlassung andere<br />
und mich gefährden?<br />
• Ist meine Handlung Umwelt schonend?<br />
• Kann durch meine Handlung die Werterhaltung<br />
einer Sache befördert werden?<br />
• Wird durch meine Handlung Sachschaden<br />
angerichtet, den andere bezahlen müssen oder<br />
der die Gemeinschaft aller belastet?<br />
• Fehlen mir Informationen, die meine Antriebskräfte<br />
stärken würden?<br />
Bei einem Handlungstyp, dem kommunikativen<br />
Handeln, sind Fragen an die Rechtfertigung des<br />
Gesagten unverzichtbar. Fremdenfeindliche Äu-<br />
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Forum Arbeitslehre 9 Arbeitslehre Werkstätten Nov <strong>2012</strong>