Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall
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Der Historiker und Publizist Karl Schlögel ist ein Reisender, Beobachter und Erzähler, der die Prozesse der Veränderung<br />
wahrnimmt und diese weniger wissenschaftlich als vielmehr essayistisch auf ungewöhnliche Art neu interpretiert.<br />
Bert Rebhandl: Herr Schlögel, wo liegt denn<br />
Marjampole, die Stadt, deren Namen auch Ihr<br />
neues Buch trägt?<br />
Karl Schlögel: Marjampole ist kein allzu bekannter<br />
Ort. Selbst wenn man ihn Litauern<br />
nennt, sehen die Menschen einen dort skeptisch<br />
an. Sie denken bei dem Namen vermutlich<br />
an dubiose Geschäfte. Ich bin auf ihn aufmerksam<br />
geworden, weil es in den neunziger <strong>Jahre</strong>n<br />
auf dem Berliner Ring immer diese Konvois<br />
von litauischen Autos gab, sowohl von privaten<br />
Personenwagen wie auch von Autotransportern.<br />
Ich bin der Frage nachgegangen, wohin<br />
diese Trecks führten, und fand heraus, dass es<br />
im Dreiländerdreieck von Polen, Weißrussland<br />
und Litauen diesen Ort Marjampole gibt, der<br />
für einen riesigen Autobasar bekannt ist. Später<br />
habe ich ihn sogar einmal vom Flugzeug aus<br />
gesehen – ein enormer Parkplatz. Marjampole<br />
erscheint mir als eines dieser Relais, die Europa<br />
ausmachen: Es ist ein Basar, der aber eben<br />
auf Autos spezialisiert ist. Für mich stellt er einen<br />
Ort nachholender Automobilisierung dar,<br />
und damit ein bedeutendes Moment der Transformation.<br />
Man kann daraus ersehen, dass die<br />
Menschen nicht darauf warteten, dass der Staat<br />
irgendwelche Programme für sie entwarf, als sie<br />
ihre Arbeit verloren. Hunderte, Tausende von<br />
Leuten sind in dieses Business gegangen, das<br />
sich in Westrichtung zwischen dem Ruhrgebiet<br />
und Belgien und Litauen erstreckt. Es handelt<br />
sich dabei um von heute auf morgen arbeitslos<br />
gewordene Menschen, die das irgendwie<br />
aufgefangen haben und jetzt die Gebrauchtwageninserate<br />
in deutschen Regionalzeitungen<br />
studieren. Sie haben Eigenverantwortung<br />
übernommen. Ein drittes Moment, das mich<br />
interessiert: Marjampole ist ja nur eine Vermittlungsstelle.<br />
Die Autos gehen weiter nach<br />
Duschanbe oder Taschkent, zum Teil en gros.<br />
Da passiert viel mehr als nur der Verkauf eines<br />
Autos. Ich muss dabei immer wieder an den<br />
Begriff Karawanserei denken, an die Weltläufigkeit,<br />
die darin impliziert ist. Für mich sind<br />
diese Leute eigentlich Helden, weil sie das Alltagsgeschäft<br />
der Normalisierung betreiben.<br />
Sie nennen diese Menschen die „Konterbandisten<br />
des Ausgleichs“ – ein schöner Begriff. Er<br />
birgt aber auch eine Problematik in sich. Denn<br />
die europäischen Institutionen und die Politik<br />
wollen eine Transformation von oben, einen geregelten<br />
Wandel und Ausgleich. Was Sie jedoch<br />
beschreiben, ist ein riesiger informeller Sektor.<br />
Ich habe verschiedene Versuche unternommen,<br />
dass diese beiden Sphären miteinander in<br />
Verbindung treten. Es wäre viel besser, wenn es<br />
weniger Konferenzen zum kulturellen Selbstverständnis<br />
und dafür mehr Kontaktaufnahme<br />
10<br />
„Diese lachhaften Visa,<br />
das ist tiefes 19. Jahrhundert!“<br />
— Bert Rebhandl im Gespräch mit Karl Schlögel —<br />
dieser Sphären gäbe. Hier die fleißigen und<br />
eifrigen EU-Bürokraten – sie bewegen sich in<br />
ihren Korridoren – dort die LKW-Ströme, die<br />
Zollabfertigung, die Bahnhöfe, die Billigflieger,<br />
die Warteschlangen vor den Botschaften, natürlich<br />
auch der Frauenhandel. Das sind die Ströme,<br />
die sich mit denen der Bürokratie kaum<br />
berühren. Malgorzata Irek, die eine Langzeitstudie<br />
über den Schmuggelzug zwischen Berlin<br />
und Warschau publizierte, fand heraus, dass<br />
sich etwas verändert hat. Dass die berühmte<br />
„polnische Putzfrau“ in Berlin für eine ganze<br />
Generation äußerst erfolgreicher Unternehmerinnen<br />
steht. In diesen Kriechströmen passieren<br />
die Dinge. Wenn Europa etwas werden soll,<br />
muss es sich auf diese ameisenhafte Tätigkeit<br />
einstellen. Die heroische Phase der individuellen<br />
Krisenbewältigung ist vorüber, eine gewisse<br />
Stabilisierung ist eingetreten.<br />
Heißt das, es gibt zu wenig Wissen über den<br />
Alltag Europa?<br />
Nein, Wissen ist vorhanden. Wenn man etwa<br />
jemanden trifft, der einem erzählt, dass er<br />
aus Bayern in die Ukraine gegangen ist, um in<br />
Odessa eine alte Brauerei, die vor dem Krieg<br />
schon bayerisch war, zu modernisieren, dann<br />
durchlebt dieser damit im Grunde die ganze<br />
Geschichte des Neuen Europa. Diese Leute,<br />
die vor Ort arbeiten, zum Teil, als wären sie<br />
mit dem Fallschirm abgeworfen worden, die<br />
keine Osteuropa-Experten sind und auch keine<br />
Transformationsexperten, die sind existenziell<br />
darauf angewiesen, es ganz genau und ernst zu<br />
nehmen. Das Eröffnen einer Bank, einer Supermarktfiliale<br />
– das bedingt eine unglaublich<br />
konkrete Expertise, die man heute an keinem<br />
Institut bekommen kann.<br />
Innerhalb Osteuropas gibt es ein Nord-Süd-Gefälle.<br />
Das Baltikum scheint sich schneller umzustellen<br />
als etwa Bulgarien oder Rumänien.<br />
Die Türkei bildet – auch religiös und kulturell<br />
– eine Schnittstelle. Wie sehen Sie die Zukunft<br />
der Türkei in Europa?<br />
Ich bin nicht für einen Beitritt der Türkei als<br />
Vollmitglied der EU. Ich bin dafür, das europäische<br />
Erbteil des Osmanischen Reichs ernst zu<br />
nehmen und die Türkei ganz offensiv an Europa<br />
heranzuziehen. Aber ich bin gegen eine flächendeckende,<br />
schematische Integration. Die<br />
EU hält das auf lange Sicht nicht aus. Wir müssen<br />
Formen entwickeln, die intelligenter und<br />
genauer sind, das Europäische in der Türkei zu<br />
aktivieren. Ich arbeite mit dem Bild des Verzahnens.<br />
Es bedarf der Schaffung von Scharnieren,<br />
von irreversiblen Punkten der Zusammenarbeit.<br />
Solange alles jenseits einer Vollmitgliedschaft<br />
als minderwertig erscheint, ist das na-<br />
türlich schwierig. Auf dem Hintergrund der<br />
russischen Erfahrung ist die Modernisierung<br />
der Türkei eine der großen Erfolgsgeschichten<br />
des <strong>20</strong>. Jahrhunderts. Wenn man die Auflösung<br />
des Russischen und des Osmanischen Reichs<br />
vergleicht, dann gibt es viele erstaunliche Parallelen,<br />
inklusive des Großverbrechens, das am<br />
Beginn der modernen Türkei steht, und der ungeheuren<br />
Gewaltentfaltung in der Sowjetunion.<br />
Auf lange Sicht ist die Modernisierung der Türkei<br />
eigentlich nachhaltiger gewesen.<br />
Inzwischen ist ein Vollbeitritt zur EU auch in<br />
der Türkei eine Frage des Nationalstolzes.<br />
Er ist dazu gemacht worden und das ist sehr<br />
schlecht. Ich bin ein Türkei-Fan, bin sehr beeindruckt<br />
von der Vermittlung von Tradition<br />
und Moderne, von der traditionellen Arbeitskultur<br />
und dem, was durch die Zugehörigkeit<br />
zur NATO, zum „Westen“, ins Land gekommen<br />
ist. Ich bin voller Bewunderung dafür, wie die<br />
modernen türkischen Städte „ticken“, wohlgemerkt<br />
immer auch auf dem Hintergrund meiner<br />
Erfahrungen in Russland, wo eine ungeheure<br />
Verlangsamung und Erschwerung herrscht.<br />
Wo endet denn „Ihr“ Europa?<br />
Europa in erster Linie ein Ort, eine kleine<br />
Halbinsel an der eurasischen Landmasse, wie<br />
Paul Valéry gesagt hat. Normalerweise geht die<br />
Rede: Europa ist nicht nur ein Ort, sondern ein<br />
System von Werten. Ich definiere Europa als<br />
Ort. Hier gab es Adolf Hitler und Walter Benjamin,<br />
Lenin und Chagall, Glanz und Absturz.<br />
Man kann sich nicht nur das Schöne heraussuchen.<br />
Der Ort mit allen Unschärferelationen<br />
ist dann eben der Kontinent, bis zum Ural, bis<br />
nach Kleinasien. Die ganze Ägäis war ein europäisches<br />
Meer. Ich bin natürlich der Meinung,<br />
dass Russland ein Teil der europäischen Kultur<br />
ist, aber ich würde nie sagen, dass man Russland<br />
in die Union aufnehmen sollte, da das<br />
tatsächlich ein Kontinent eigener Ordnung ist,<br />
der eben bis zum Pazifik reicht. Ich bin für eine<br />
Erhöhung der Durchlässigkeit der Grenzen<br />
und für stärkere Mobilität. Heute schon gibt es<br />
Korridore zwischen den Städten, zum Beispiel<br />
zwischen Moskau, Minsk und Warschau. Es ist<br />
sensationell, was etwa in der Ukraine geschieht.<br />
Dort gibt es eine einseitige Öffnung, das ist wie<br />
ein zweiter Fall der Mauer. Man kann ohne Visum<br />
nach Kiew kommen und die Urmutter der<br />
osteuropäischen Städte ansehen. Die zur Routine<br />
werdende Nachbarschaft ist das Fundament<br />
Europas. Diese lachhaften Visa, das ist tiefes<br />
19. Jahrhundert! Wir müssen andere Formen<br />
der Sicherheit finden. Die großen Gewinner<br />
einer modernen Visumspraxis wären nicht die<br />
Kriminellen, sondern die einfachen Leute.<br />
Sie sind weder Soziologe im klassischen Sinne<br />
noch Statistiker. Wie würden Sie die Methode<br />
der Beobachtung bezeichnen, die Sie verfolgen?<br />
Ich habe eine andere Matrix. Ich muss bestimmte<br />
Städte regelmäßig besuchen – in Moskau<br />
muss man sogar alle Vierteljahre sein –<br />
bestimmte Strecken regelmäßig befahren und<br />
führe darüber eine Art Langzeittagebuch. Das<br />
sind meine Versuche, den Prozess der Transformation<br />
zu messen. Es gibt Städte, die „aus<br />
dem Schneider“ sind. Das kann man für Krakau<br />
sagen, für Posen, für Breslau. Dort hat sich<br />
eine Verstetigung gegen die Knalleffekte durchgesetzt.<br />
Dort gibt es nicht nur kosmetische<br />
Korrekturen, sondern eine Regeneration. Ich<br />
suche Anzeichen der Erneuerung, die gegenteiligen<br />
Anhaltspunkte des Zusammenbruchs,<br />
der Verbitterung. Die Zwangsindustrialisierung<br />
etwa kann man ja freien Auges sehen. Viel<br />
interessanter sind die fast unsichtbaren ersten<br />
Anzeichen: Kündigt sich da etwas an? Wird das<br />
stark genug sein, um sich durchzusetzen? Das<br />
ist meine Matrix der Beobachtung.<br />
Sie lehren heute an der Europa-Universität Viadrina.<br />
Wird diese Institution diesem Titel bereits<br />
gerecht?<br />
Ich muss Ja und Nein sagen. Fast vierzig Prozent<br />
der Studierenden sind aus Osteuropa, vor<br />
allem aus Polen. Die Situation ist dadurch eher<br />
binational und nicht plural. Das bedeutet noch<br />
nicht, dass alle sich auf diese Europäizität eingestellt<br />
haben. Es gibt auch sehr starke konventionelle<br />
Momente. Die Möglichkeiten, in einem<br />
neuen Territorium zu operieren, werden noch<br />
nicht genügend genützt. Die jetzt ausgebildete<br />
Generation von Studierenden ist jenseits der<br />
historischen Erinnerung an Solidarność und<br />
DDR aufgewachsen und bewegt sich wie selbstverständlich<br />
auf beiden Seiten der Grenze. Die<br />
Bildung einer wirklichen Europa-Universität<br />
wird dieser Generation obliegen.<br />
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, war Professor für Osteuropäische<br />
Geschichte an der Universität Konstanz,<br />
bevor er 1994 an die Europa-Universität Viadrina in<br />
Frankfurt an der Oder ging. <strong>20</strong>02 erschien das Buch<br />
„Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang“; <strong>20</strong>05 ist<br />
„Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist<br />
der Städte“ (jeweils im Hanser Verlag) erschienen.<br />
<strong><strong>20</strong>09</strong> erhielt Karl Schlögel den Leipziger Buchpreis zur<br />
Europäischen Verständigung.<br />
Bert Rebhandl lebt als freier Journalist und Autor in<br />
Berlin.<br />
Erschienen im „<strong>Report</strong>“ 2/<strong>20</strong>05