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Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

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„Wir sind demokratiepolitisch<br />

um 15 <strong>Jahre</strong> zurück gefallen“<br />

Slowenien: Der Journalist Blaž Zgaga über die Situation der Medien in seinem Land.<br />

„571 Journalisten haben die Petition gegen politische Zensur unterzeichnet. Es sind aber nicht nur Journalisten, die mit<br />

der Regierung Probleme haben. 70.000 Menschen nahmen an einem Protest der Gewerkschaften teil – das sind mehr als<br />

drei Prozent unserer Gesamtbevölkerung. 70.000 Lehrer, Professoren und andere unterzeichneten eine Petition gegen<br />

eine Bildungsreform, die öffentlichen Schulen die Basis entzieht. Der Bildungsminister antwortete mit Zynismus: Die<br />

Unterzeichner hätten offenbar nicht gewusst, was sie da unterschreiben. Slowenische Richter drohen mit Streik, weil<br />

die Regierung die Freiheit der Justiz nicht achtet. Viele Berufsgruppen spüren die politischen Interventionen. Sie sind<br />

inzwischen fast normal und reichen bis zu den unteren Ebenen. Nicht nur in den Ministerien, der Polizei, dem Militär,<br />

der Staatspolizei. Auch andere öffentliche Bereiche stehen unter politischem Druck. Die Kluft zwischen Sloweniens Image<br />

und der Realität wird also immer größer.“<br />

Das gesamte Interview mit dem streitbaren slowenischen Journalisten Blaž Zgaga, das die österreichische Journalistin und Buchautorin<br />

Barbara Tóth für „<strong>Report</strong>“ führte, ist im „<strong>Report</strong>“ im März <strong>20</strong>08 (online) erschienen. Blaž Zgaga war Mitinitiator einer Petition gegen Polit-Druck<br />

und Zensur durch die konservative slowenische Regierung von Janez Janša, die 571 von 2.000 Journalisten Ende <strong>20</strong>07 unterschrieben. Blaž<br />

Zgaga verließ in Folge seine Arbeitsstelle bei der Tageszeitung „Večer“ und arbeitet nun als freier Journalist.<br />

“In terms of democratic politics we<br />

have gone backwards by about 15 years”<br />

Slovenia: Journalist Blaž Zgaga on the media’s situation in his country<br />

“571 journalists have signed the petition against political censorship. But it is not only journalists that have problems with<br />

the government. 70,000 people took part in a protest by the trade unions in November – that is more than three per cent<br />

of the entire population. 70,000 teachers, professors and others signed a petition against an educational reform that deprives<br />

public schools of their basis. The education minister answered cynically that those who signed were apparently not<br />

aware what they were signing. Slovene judges are threatening to strike, as the government does not respect the freedom<br />

of the justice system. Many professional groups feel the effect of the political interventions. These have become almost<br />

normal and extend to the lower levels. Not only in the ministries, the police, the military, the state police, other public<br />

areas are also under pressure. The gap between Slovenia’s image and reality is growing larger all the time.“<br />

The interview with the disputatious Slovene journalist Blaž Zgaga, which Austrian journalist and book author Barbara Tóth conducted for<br />

“<strong>Report</strong>“, appeared in “<strong>Report</strong>” in March <strong>20</strong>08 (online). Blaž Zgaga helped to initiate a petition against the political pressure and censorship<br />

exercised by the conservative Slovene government of Janez Janša, which 571 out of <strong>20</strong>00 journalists signed at the end of <strong>20</strong>07. Blaž Zgaga<br />

subsequently quit his job with the daily newspaper “Večer” and now works as a free-lance journalist.<br />

„Wer müde ist, stirbt“<br />

Russland/Tschetschenien: <strong>Report</strong>age von Anna Politkowskaja<br />

„Alle haben den Krieg bereits satt“, sagte Budwadi einen Monat vor seinem Tod zu mir. „Alle müssen sich aussöhnen.“<br />

Heutzutage herrscht im offiziellen Tschetschenien ein eklatanter Mangel an solchen Menschen – keine Engel, doch<br />

solche, die sich betroffen fühlen und leiden. Es gibt in Tschetschenien immer mehr „geradlinige Einzeller“. Jemanden<br />

zu töten bedeutet für sie so viel wie eine Tasse Tee zu schlürfen. Einen Menschen zu verstehen, der im Voraus zum Feind<br />

erklärt wurde, weil er anders lebt, ist für einen Einzeller unmöglich. Was bedeutet „verstehen“ in tschetschenischen<br />

Verhältnissen? Verstehen bedeutet, Leben zu bewahren. Das ist der Preis der Toleranz, einen anderen gibt es dort derzeit<br />

nicht. Buwadi schenkte Menschen einen zweiten Versuch, obwohl seine Stellung ihn dazu verpflichtete, schon den ersten<br />

zu unterbinden. Er schenkte, einfach so – und es gibt niemanden, der ihn hier ersetzen kann. „Hast du wenigstens in<br />

dem Haus, in dem du übernachtest, ein Maschinengewehr?“, fragte Buwadi besorgt. „Da gibt es kein Maschinengewehr.<br />

Ich will auch keines“, murmelte ich. „Ich habe die Maschinengewehre satt. Sieben <strong>Jahre</strong> gibt es sie schon. Hast du sie<br />

denn noch nicht satt?“ Buwadi schwieg, er stimmte zu. Auch er hatte die Maschinengewehre und die ewige Angst satt. Er<br />

war todmüde davon, sich nie von der Waffe trennen zu dürfen und im Tarnanzug in einem Haus zu schlafen, das einer<br />

Kaserne ähnelt. Es heißt, wer müde ist, stirbt.<br />

Auszug aus der <strong>Report</strong>age „Umerziehung der schwarzen Witwen“ vom 21. September <strong>20</strong>06. Es war die letzte, die die russische Journalistin<br />

Anna Politkowskaja in der russischen Zeitung „Nowaja Gaseta“ veröffentlichen konnte. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von<br />

„Nowaja Gaseta“ und „Perlentaucher“ im „<strong>Report</strong>“ 1/<strong>20</strong>07. Anna Stepanowna Politkowskaja wurde am 30. August 1958 in New York geboren<br />

und am 7. Oktober <strong>20</strong>06 in Moskau in ihrem Haus von unbekannten Tätern ermordet. Sie war <strong>Report</strong>erin, Autorin und Aktivistin für Menschenrechte<br />

und wurde bekannt durch <strong>Report</strong>agen und Bücher über den Krieg in Tschetschenien, über Korruption im Verteidigungsministerium und<br />

im Oberkommando der Streitkräfte in Tschetschenien.<br />

“He who is tired, dies!”<br />

A report from Russia/Chechnya by Anna Politkowskaja<br />

“Everyone is sick of the war,” Buvadi said to me a month before his death. “Everyone wants reconciliation.” Today there<br />

is an astonishing shortage of such people in official Chechnya – no angels, rather people who feel deprived, who suffer.<br />

There are more and more isolated individuals in Chechnya. Killing someone means as much to them as sipping tea. It’s<br />

not possible for such people to understand someone who has already been defined as an enemy because he lives differently.<br />

What does “understand” mean in the Chechen context? Understanding means staying alive. That’s the price of tolerance,<br />

and the only one at the moment, even if some people continue to believe that the games with the amnesty are an example<br />

of Kadyrov’s tolerance and that he “rescues fighters” to preserve the nation. Lies, all lies. People are being bound by<br />

bloodshed; the hope is that these fetters will act to restrain and control. Buvadi, on the other hand, wanted to unite with<br />

the possibility of being able to live without his help – that was his principle. He gave people a second chance, even though<br />

his position in fact prohibited him from offering them a first one. He gave. Just like that – and there’s nobody here that<br />

can replace him. “Do you at least have a machine gun in the house where you’re staying?” Buvadi asked, worried. “There’s<br />

no machine gun and I don’t want one,” I murmur. “I’ve had enough of machine guns. We’ve had them for seven years. Are<br />

you not tired of them?” Buvadi was silent but agreed. Even Buvadi was tired of the machine guns and the eternal fear. He<br />

was dead tired of not being allowed to leave his weapon behind, of having to sleep in camouflage in a house that looks like<br />

a barracks. It is said that he who is tired, dies.<br />

From an article “The man who gave second chances” from September 21, <strong>20</strong>06, the last that Anna Politkovskaya published in the Russian<br />

newspaper “Novaya Gazeta”. Published with kind permission of “Nowaya Gazeta” and “Perlentaucher” in “<strong>Report</strong>” 1/<strong>20</strong>07. Anna Stepanova<br />

Politkowskaya was born on 30 August 1958 in New York and was murdered by unknown assailants on 7 October <strong>20</strong>06 in her house in<br />

Moscow. She was a reporter, author and activist for human rights and became known through her reports and books about the Chechnya war,<br />

about corruption in the Ministry of Defence and in the high command of the armed forces in Chechnya.

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