Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall
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Sebastian Fasthuber: Gehen wir ein paar Jahrzehnte zurück: In der<br />
Tschechoslowakei bedeutete Underground in den siebziger <strong>Jahre</strong>n etwas<br />
viel Radikaleres als im Westen. Langhaarige und Rocker wurden von<br />
der Polizei verfolgt und konnten nur im Geheimen leben, wie sie wollten.<br />
Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?<br />
Svatopluk Karasek: Vielleicht sollte ich Underground im Kontrast zur<br />
heutigen Zeit erklären. Das heutige Leben schafft eher leblose Situationen.<br />
Heute kann man alles haben und muss dazu nicht einmal sein Haus<br />
verlassen. Alles läuft besser, aber das Leben ist irgendwie flach. Etwas<br />
Lebendiges, Authentisches entsteht nur mehr selten. Mit dem Underground<br />
war es anders. Die jungen Leute haben die Unterdrückung durch<br />
den Kommunismus gespürt und etwas gesucht, wo sie voll leben konnten.<br />
Underground war Kunst ohne Honorare, aus reiner Freude. Jeder<br />
hat irgendetwas gemacht und wir haben das hintereinander aufgeführt<br />
auf kleinen Bühnen, draußen in der Natur oder in Scheunen. Professoren,<br />
die nicht mehr unterrichten durften, haben Lesungen aus verbotenen<br />
Büchern gehalten. Es war eine sehr lebendige Zeit.<br />
Das klingt alles sehr idyllisch. Aber Sie waren doch ständig auf der Flucht<br />
und 1976 sogar einige Monate inhaftiert.<br />
Ja, ich war acht Monate eingesperrt. Was es erträglich gemacht hat, war<br />
die Solidarität. Auch in den fünfziger <strong>Jahre</strong>n wurden schon ständig Leute<br />
eingesperrt. Nur hat sich damals niemand dafür interessiert. Bei uns<br />
haben sich die Leute erstmals verteidigt. Václav Havel hat eine wichtige<br />
Rolle gespielt, andere Künstler, aber auch die Kirche haben mitgewirkt.<br />
Letztlich hat das Engagement dieser Leute geholfen und ich und einige<br />
andere Inhaftierte wurden im November 1976 aus der Untersuchungshaft<br />
entlassen. Aus dieser Solidarität heraus ist im Jänner 1977 die Charta<br />
'77 entstanden. Ich war einer der Ersten, die sie unterschrieben haben.<br />
Der Nachteil der Charta war, dass wir danach ständig Besuch von der<br />
Geheimpolizei bekamen. Ich war dann noch elfmal in Untersuchungshaft.<br />
Drei <strong>Jahre</strong> lang wurde ich stark verfolgt. Meine Familie litt sehr<br />
darunter.<br />
72<br />
Voll in<br />
der Welt,<br />
voll im<br />
Glauben<br />
Svatopluk Karasek, 1942 in Prag geboren, war protestantischer Pfarrer, ehe er sich in den frühen<br />
siebziger <strong>Jahre</strong>n dem wilden Underground anschloss und Rock predigte. Er wurde mit Berufsverbot<br />
belegt, inhaftiert und emigrierte in die Schweiz. Lange schon lebt er wieder in Prag und ist seit <strong>20</strong>04<br />
Menschenrechtsbeauftragter der tschechischen Regierung.<br />
Underground-Rocker und Pfarrer, das wirkt erst einmal widersprüchlich.<br />
Aber auch Religiosität war damals in der Tschechoslowakei eine Art<br />
Protest, nicht?<br />
Genau. Das kommunistische Regime wollte die Kirche und den Glauben<br />
ausrotten. Wir waren eine Gegenbewegung dazu. Ich habe Theologie<br />
studiert und das auch sehr ernst genommen, weil ich tiefgläubig bin. Ich<br />
habe aber andererseits nie den Kontakt zu meinen Freunden unterbrochen,<br />
die nicht glauben. Ich blieb in der Welt. Voll in der Welt, voll im<br />
Glauben.<br />
Nach der Wende gingen Sie gleich zurück in Ihre Heimat?<br />
Ich musste, auch wenn es für meine Familie schwierig war. Wir Undergroundler<br />
haben früher ja gedacht, dass dieses System für immer installiert<br />
ist. Dass das irgendwann zu Ende gehen könnte, war unvorstellbar.<br />
Plötzlich hatten wir die Chance, etwas Neues aufzubauen.<br />
Was ist von dieser Aufbruchsstimmung geblieben?<br />
Ich glaube, wir haben in Tschechien heute eine normale Entwicklung.<br />
Man sollte sich ruhig öfter die Freiheit, die man heute hat, vergegenwärtigen.<br />
Viele nehmen sie schon zu selbstverständlich. Ich freue mich<br />
immer noch, wenn ich singen und predigen kann. Allerdings muss man<br />
sagen, dass wohl die meisten Menschen früher die Freiheit gar nicht vermisst<br />
haben. Vielleicht ein paar hundert Leute haben aktiv im Underground<br />
mitgewirkt. Aber man sieht, was entstehen und bewegt werden<br />
kann, wenn man sich stark für etwas einsetzt.<br />
Sebastian Fasthuber arbeitet als freier Musik- und Literaturkritiker.<br />
Das gesamte Interview ist im „<strong>Report</strong>“ im August <strong>20</strong>06 (online) erschienen.<br />
— Sebastian Fasthuber im Gespräch mit Svatopluk Karasek —