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Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

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Analyse über das Land schreiben wolle. Allein<br />

durch eine solche Anfrage kam man schon in<br />

die Akten rein. Kollegen warnten mich, ich<br />

solle um Gottes willen nichts Schriftliches aus<br />

der Hand geben, sonst würde man mir daraus<br />

sofort einen Strick drehen. An diesen Rat hielt<br />

ich mich.<br />

„Gute Quellen, auf die wir<br />

Journalisten zurückgreifen<br />

können, sind kritische NGOs<br />

vor Ort“<br />

Stimmt es, dass Sie einmal sinngemäß gesagt<br />

haben: „In den Osten darf man nur politisch Linke<br />

schicken, das sind die schärferen Kritiker“?<br />

B. C.-K.: Das habe nicht ich, sondern der ehemalige<br />

ORF-Intendant Gerd Bacher gesagt,<br />

ein großer Kommunistenfresser. Er hatte mich<br />

Anfang der siebziger <strong>Jahre</strong> für die Osteuroparedaktion<br />

des ORF engagiert. Ich habe ihm<br />

gesagt, ich sei aber mit einem Mitglied des<br />

Politbüros der KPÖ verheiratet. Gerd Bacher<br />

antwortete nur: „Das ist gut so!“ Bei meiner Arbeit<br />

war die private Verbindung zu einem Reformkommunisten,<br />

wie es mein Mann war. natürlich<br />

eher von Nachteil. Davon wusste auch<br />

kaum jemand im Osten, bestenfalls vielleicht<br />

die Geheimdienste.<br />

War der ORF bei der Osteuropaberichterstattung<br />

überdurchschnittlich engagiert?<br />

B. C.-K.: In meiner Zeit in der Osteuroparedaktion<br />

des ORF vor der Wende tat sich politisch<br />

in den Ländern oft nicht besonders viel. Mich<br />

interessierte eher das Leben in den Ländern,<br />

die so unmittelbar an Österreich angrenzten,<br />

unabhängig vom Regime. Der ORF war damals<br />

auch allen Vorschlägen gegenüber sehr offen.<br />

M. K.: Wenn dann etwas passierte, war es bestimmt<br />

ein unglaublicher Vorteil, Leute in der<br />

Redaktion sitzen zu haben, die sich in den Ländern<br />

schon auskannten.<br />

B. C.-K.: Richtig. Kurz bevor die Solidarnośćbewegung<br />

Ende der Sechziger ihren Lauf nahm,<br />

war ich in Polen und traf Adam Michnik, der<br />

ja viele <strong>Jahre</strong> im Gefängnis saß. Er verriet mir,<br />

dass sie jetzt freie Gewerkschaften durchzusetzen<br />

gedächten. Ausgerechnet das, dachte ich<br />

mir, das werden die nie zulassen. Wenig später<br />

kam eine Meldung beim ORF rein – mit Telex,<br />

das war eine Art Papierstreifen – und ich las:<br />

„Streik in der Danziger Werft – eine der Forde-<br />

rungen: freie Gewerkschaften!“ Ich fuhr sofort<br />

los. Wir waren unter den Ersten von der Auslandspresse<br />

und ich kannte dort schon einige<br />

Leute. Unsere Radiogeschichten sind dann im<br />

ganzen deutschen Sprachraum nachgespielt<br />

worden. Daraufhin kam Gerd Bacher auf die<br />

Idee, eine Osteuroparedaktion im ORF zu<br />

gründen.<br />

Gab es Quellen aus den Ostblockländern, auf<br />

die man im Westen regelmäßig zurückgreifen<br />

konnte?<br />

B. C.-K.: Gute Informanten waren die Emigranten,<br />

von denen nach dem Jahr 1968 viele in<br />

Wien lebten. Eine ganz wichtige Quelle war das<br />

„Radio Free Europe“. Die hatten ihre Leute vor<br />

Ort, sie verfolgten die Medienberichterstattung<br />

in den Ländern intensiv und hatten beispielsweise<br />

Wirtschaftszahlen parat, an die wir nie<br />

rangekommen wären. Ihre sogenannten Research-Materialien<br />

waren eine unverzichtbare<br />

Quelle.<br />

Da hat man es heute in Zeiten des Internets<br />

schon leichter, oder?<br />

M. K.: Die offiziellen Quellen der Regierungen<br />

kann man heute größtenteils immer noch nicht<br />

verwenden, weil die ehemaligen Ostblockstaaten<br />

und die Länder Ex-Jugoslawiens mitunter<br />

dazu neigen, sich ihr Land schönzureden. Gute<br />

Quellen, auf die wir Journalisten zurückgreifen<br />

können, sind oft die kritischen NGOs vor Ort,<br />

wie das Helsinki-Komitee für Menschenrechte,<br />

Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa,<br />

Institutionen, die dort am Aufbau der Zivilgesellschaften<br />

beteiligt sind. Sie sind verlässliche<br />

Quellen, weil sie oft in Opposition zu dem stehen,<br />

was dort offiziell politisch passiert.<br />

Wird nicht auch von den Regierungen im Westen<br />

beschönigt?<br />

M. K.: Mein Eindruck ist, ja. Auch in Wien habe<br />

ich diese Erfahrung während meiner Recherchen<br />

gemacht. Wenn man etwa beim Innenministerium<br />

anruft und offizielle Zahlen über<br />

Islamisten haben möchte, bekommt man keine<br />

Antwort, obwohl Staatsanwälte und Polizei in<br />

Bosnien davor warnen, dass radikales Gedankengut<br />

aus Wien nach Bosnien exportiert würde.<br />

In Österreich stößt man als Journalist teilweise<br />

auf Widerstände, die man in einer westlichen<br />

Demokratie so nicht erwarten würde.<br />

Berichten österreichische und deutsche Medien<br />

anders über Osteuropa?<br />

M. K.: Auf jeden Fall. Die österreichischen Medien<br />

berichten ausführlicher und regelmäßiger<br />

aus Ost- und Südosteuropa als die deutschen.<br />

Das liegt an den familiären Verknüpfungen, die<br />

es in Österreich immer noch gibt; an dem gemeinsamen<br />

k. u. k.-Erbe, aber natürlich auch<br />

an den neuen wirtschaftlichen Vernetzungen.<br />

Es gibt in Österreich ein vitales wirtschaftliches<br />

Interesse an dieser Region. Und man ist geografisch<br />

schlicht und einfach näher dran.<br />

Marion Kraske, geboren 1969, hat Politikwissenschaft,<br />

Wirtschaftspolitik und Slawistik studiert. Nach einem<br />

Volontariat bei der Deutschen Presse-Agentur arbeitete<br />

sie als Redakteurin bei der „Tagesschau“ in der ARD.<br />

<strong>20</strong>02 wechselte sie zu „Spiegel online“, ein Jahr später<br />

in die Auslandsredaktion des deutschen Nachrichtenmagazins.<br />

Von <strong>20</strong>05 bis <strong>20</strong>08 Korrespondentin des<br />

„Spiegels“ in Wien, zuständig für Österreich und Südosteuropa,<br />

seither freie Autorin und Publizistin.<br />

Barbara Coudenhove-Kalergi wurde 1932 in Prag geboren<br />

und lebt seit ihrer Vertreibung aus der Heimat im<br />

Jahr 1945 in Wien. Sie schrieb als Journalistin für die<br />

„Arbeiter-Zeitung“, „Die Presse“, „Neues Österreich“,<br />

„Kurier“ und „profil“. Ab 1975 arbeitete sie in der Osteuroparedaktion<br />

des ORF, für den sie von 1991 bis 1995<br />

als Korrespondentin aus Prag berichtete. Dem breiteren<br />

österreichischen Publikum war sie bereits durch ihre<br />

<strong>Report</strong>agen, vor allem aus Polen und der Tschechoslowakei,<br />

im Österreichischen Rundfunk bekannt.<br />

Heute schreibt sie als freie Journalistin für verschiedene<br />

tschechische und österreichische Zeitungen (u. a. „Der<br />

Standard“) und ist Herausgeberin mehrerer Bücher mit<br />

Texten zur Geschichte und Gegenwart der Länder Osteuropas.<br />

Von Václav Havel wurde sie <strong>20</strong>01 mit dem Orden<br />

von Tomáš Garrigue Masaryk ausgezeichnet. Sie ist Mitbegründerin<br />

der Bürgerinitiative „Land der Menschen“,<br />

die sich für ein besseres Zusammenleben von In- und<br />

Ausländern einsetzt.<br />

Buchtipps<br />

Barbara Coudenhove-Kalergi, Oliver Rathkolb (Hrsg.),<br />

„Die Beneš-Dekrete“, Czernin Verlag, Wien <strong>20</strong>02<br />

Barbara Coudenhove-Kalergi (Hrsg.), „Meine Wurzeln<br />

sind anderswo (Österreichische Identitäten)“, Czernin<br />

Verlag, Wien <strong>20</strong>01<br />

Marion Kraske, „Ach Austria! Verrücktes Alpenland“,<br />

Molden Verlag, Wien <strong><strong>20</strong>09</strong><br />

Erschienen im „<strong>Report</strong>“ im September <strong>20</strong>08 (online)<br />

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