09.11.2012 Aufrufe

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Jewgenija Albaz ist eine jener Journalistinnen in Russland, die kompromisslos wie ihre einstige Studienkollegin Anna<br />

Politkowskaja die Finger auf die Wunden ihres Heimatlandes und dessen Regimes legt. Schon zurzeit der Sowjetunion<br />

hatte sie Recherchen über den Geheimdienst KGB angestellt und deswegen Drohungen erhalten. Diese bekommt sie<br />

nach wie vor, ihr Name scheint sogar auf „Todeslisten“ verschiedenster Gruppen im Internet auf. Albaz moderiert unter<br />

anderem eine politische Diskussionssendung im liberalen Radio „Echo Moskvy“ und ist Chefredakteurin des Wochenmagazins<br />

„The New Times“. Im Interview mit „<strong>Report</strong>“ gibt sie Einblick in den Journalistenalltag in einem autoritären<br />

Staat, in dem Menschenrechte wenig gelten und Medienvertreter für ihr unverblümtes Wort sterben können.<br />

— Eduard Steiner im Gespräch mit Jewgenija Albaz —<br />

Gussinski gehörte, so wurde das als oligarchisch<br />

gebrandmarkt. Warum eigentlich?<br />

„Unter Putin wurde es völlig<br />

unmöglich, investigativen<br />

Journalismus zu betreiben“<br />

Woher kommt in der westlichen Wahrnehmung<br />

diese Verzerrung? Woher nehmt ihr im<br />

Westen eure Überzeugung, zu wissen, wie man<br />

guten und ehrlichen Journalismus betreibt?<br />

Vielleicht ist es in Wirklichkeit sogar so, dass<br />

ihr im Westen von uns lernen könnt. Verzeihen<br />

Sie mir meine Unverfrorenheit: Ich habe nicht<br />

gesehen, dass es im Westen viele qualitative<br />

Nachforschungen gab. Wir dagegen haben solche<br />

durchgeführt.<br />

Ich meinte den Pluralismus der neunziger <strong>Jahre</strong>.<br />

Er war doch gewissermaßen ein „oligarchischer“,<br />

der angesichts des heutigen Putin-Regimes<br />

meines Erachtens verherrlicht wird.<br />

Natürlich gab es in den Neunzigern Einschränkungen<br />

in der Meinungsfreiheit. Aber dadurch,<br />

dass die Medien zu unterschiedlichen<br />

Business-Strukturen gehörten, wurde trotz der<br />

Einflussnahme Pluralismus gewahrt. Damals<br />

gehörten dem Staat weniger als 34 Prozent der<br />

bundesweiten Medien, jetzt sind es 98 Prozent.<br />

Man soll den Oligarchen-Kapitalismus in Russland<br />

nicht derart brandmarken, er existierte<br />

in vielen Ländern der Welt. Auch gegenwärtig<br />

haben wir Monopole: „General Motors“ etwa<br />

oder die „Times Corporation“ in den USA. Die<br />

verteidigen ihre Interessen auch aggressiv. In<br />

Russland, wo es an jedweder Zivilgesellschaft<br />

mangelt, hat diese Form von Kapitalismus eine<br />

scheußlichere Form angenommen. Dadurch<br />

hat jedoch der Journalismus nicht aufgehört,<br />

Journalismus zu sein.<br />

Und heute?<br />

Heute werden die Leiter der TV-Kanäle und<br />

Zeitungsredaktionen Donnerstag für Donnerstag<br />

ins Kremlbüro von Vizeadministrationschef<br />

Wladislaw Surkow gerufen, um zu erfahren,<br />

was als Nachricht an welcher Stelle zu bringen<br />

ist. Mit gigantischen Löhnen werden die Journalisten<br />

gekauft. Im Gespräch mit uns erzählen<br />

sie dann, wie widerlich es ist, fürs Staatsfernsehen<br />

zu arbeiten. Das russische Fernsehen zielt<br />

auf allen Kanälen darauf ab, den Leuten ohne<br />

Ende zu sagen: „Don’t worry, be happy.“ Seien<br />

Sie nicht beunruhigt, lachen Sie, scherzen<br />

Sie und denken Sie nicht über die Probleme<br />

nach, mit denen Sie konfrontiert sind! Die Leute<br />

spüren trotzdem, dass das Lügen sind, weil<br />

sie im realen Leben sehen, dass die Preise und<br />

die Kriminalität steigen, in gleichem Maße wie<br />

die Bestechungsgelder, die das „Business“ an<br />

die Beamten zahlt. Sie sehen, dass ihre Rechte<br />

allenthalben verletzt werden. Wir haben das<br />

alles bereits unter der Sowjetmacht durchlebt.<br />

Wir haben schon einen entwickelten Sozialismus<br />

aufgebaut. Verstehen Sie: Wir verfügen<br />

über eine riesige Erfahrung. Wir besitzen eine<br />

fantastische Überlebensfähigkeit. Wir können<br />

– leider – ohne all das leben.<br />

“Woher nehmt ihr im Westen<br />

eure Überzeugung, zu<br />

wissen, wie man guten und<br />

ehrlichen Journalismus betreibt?“<br />

Das Auditorium Ihres Senders „Echo Moskvy“<br />

ist <strong>20</strong>06 auf beachtliche 600.000 Hörer angestiegen.<br />

Kein Wunder, denn die Leute haben die Propaganda<br />

satt. In jedem Ministerium, im Kreml<br />

und in der Regierung läuft ständig „Echo<br />

Moskvy“, weil man nach Information lechzt.<br />

Neulich etwa hatte ich eine Zwei-Stunden-Sendung<br />

zum Thema Zivilgesellschaft. Ich habe<br />

den Hörern die Frage gestellt, wem sie mehr<br />

vertrauen: der Staatsmacht oder den Einrichtungen<br />

der Zivilgesellschaft. 95,6 Prozent antworteten<br />

zugunsten der Zivilgesellschaft. Und<br />

das, obwohl in allen Kanälen über den wunderbaren<br />

Präsidenten Putin erzählt wird, den Vater<br />

der Völker und großen Bruder, der alle ihre<br />

Probleme löst. Daran glauben die Leute längst<br />

nicht mehr.<br />

Nach Angaben des „Zentrums für Extremjournalismus“<br />

wurden in Russland in den letzten<br />

15 <strong>Jahre</strong>n 315 Journalisten getötet. Nur wenige<br />

Fälle wurden aufgeklärt. Im Ranking der Pressefreiheit<br />

von „<strong>Report</strong>er ohne Grenzen“ liegt<br />

Russland auf Platz 141 von 173 Plätzen.<br />

Jewgenija Albaz, geboren 1958 in Moskau, studierte<br />

und begann noch zur Sowjetzeit über den KGB zu recherchieren.<br />

1992 brachte sie ihr erstes, auch ins Deutsche<br />

übersetzte Buch „Geheimimperium KGB. Totengräber<br />

der Sowjetunion“ (dtv, München) heraus. Zu dieser<br />

Zeit publizierte sie auch wiederholt in westlichen Medien,<br />

etwa im „Spiegel“ oder der „Chicago Tribune“. Von<br />

1996 bis <strong>20</strong>03 veröffentlichte sie ihre investigativen<br />

Recherchen in der „Nowaja Gaseta“ – jenem Blatt, für<br />

das auch Anna Politkowskaja bis zuletzt arbeitete. 1996<br />

absolvierte Albaz den Master-Lehrgang an der Harvard-<br />

Universität, wo sie <strong>20</strong>04 auch über „Die Bürokratie und<br />

die russische Transformation“ dissertierte. Von <strong>20</strong>02 bis<br />

<strong>20</strong>03 unterrichtete sie an der Universität Yale. Für ihre<br />

journalistische Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen<br />

in Russland, Europa und den USA ausgezeichnet.<br />

Eduard Steiner arbeitet als GUS-Korrespondent für die<br />

österreichische Tageszeitung „Die Presse“ in Moskau.<br />

Erschienen im „<strong>Report</strong>“ 1/<strong>20</strong>07<br />

31

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!