09.11.2012 Aufrufe

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

„Schlangestehen<br />

war die einzige<br />

Manifestation einer<br />

Zivilgesellschaft“<br />

Dan Mihaltianu „Unter Ceausescu wurde die Versorgung<br />

mit Grundnahrungsmitteln immer mangelhafter. Das hatte<br />

mehrere Gründe: Die Bevölkerung wuchs, der Staat jedoch<br />

gab lieber Unsummen für megalomanische Projekte aus und<br />

zahlte seine Schulden zurück, um unabhängig zu bleiben.<br />

Die Folge war, dass manche Produkte rationiert wurden und<br />

nur noch von Leuten gekauft werden konnten, die sich vorher<br />

registrieren hatten lassen und danach endloses Anstehen<br />

in Kauf nehmen mussten.<br />

Das System des Schlangestehens wurde mit der Zeit immer<br />

besser organisiert. Es war praktisch die einzige Manifestation<br />

der Zivilgesellschaft, abgesehen vielleicht von den Zusammenkünften<br />

von Fußball-Fans oder ein paar widerständigen<br />

Intellektuellen. Ironischerweise konnten die Rumänen<br />

ihre Erfahrungen im Anstellen bei der Revolution im Dezember<br />

1989 und in den <strong>Jahre</strong>n danach gut anwenden.<br />

Auf die rumänische Küche haben sich Mangel und Schlangestehen<br />

natürlich nicht günstig ausgewirkt. Man versuchte<br />

sich zwar gegenseitig zu helfen; beim tage- und nächtelangen<br />

Stehen vor den Geschäften wurden mitunter auch<br />

Küchentricks und Rezepte ausgetauscht. Die Menschen<br />

wurden in ihrem Ernährungs- und Einkaufsverhalten insgesamt<br />

jedoch stark manipuliert und traumatisiert. Erst um<br />

das Jahr <strong>20</strong>00 erholte sich die Gesellschaft langsam davon.<br />

Die Nachwirkungen sind teilweise immer noch spürbar. Viele<br />

Rumänen haben sonderbare Gewohnheiten entwickelt – das<br />

hamsterhafte Sammeln von Nahrungsmitteln, den Konsum<br />

von abgelaufenen Produkten oder den Gebrauch von konservierten<br />

Lebensmitteln anstelle von frischen. Solche ungesunden<br />

Ernährungsgewohnheiten lassen sich nur schrittweise<br />

wieder wegbekommen.<br />

Zum Glück haben die kulinarischen Experimente des Kommunismus<br />

es nicht geschafft, die traditionelle Art, wie wir<br />

unser Essen genießen, zu zerstören. Viele Gerichte, die ich<br />

aus meiner Kindheit kenne, haben in ihrer ursprünglichen<br />

Form überlebt – zum Beispiel Sarmale (in Sauerkraut-<br />

Blätter gewickelte Fleischbällchen, Anm. d. Red.), Mamaliga<br />

(eine Art Polenta) oder Telemea (Feta-Käse).“<br />

Der Künstler Dan Mihaltianu, geboren 1945 in Bukarest, gehört der rumänischen Kunst-/Projektgruppe „Social<br />

Cooking Romania“ an, die visuelle, künstlerische und gesellschaftliche Nachforschungen zu Ernährungsfragen in<br />

Relation zu historischen, ökonomischen und politischen Ereignissen anstellt. Die Ergebnisse der Recherche präsentierte<br />

das Künstlerkollektiv Anfang des <strong>Jahre</strong>s <strong>20</strong>08 in der Ausstellung „Social Cooking Romania“ in der Neuen<br />

Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. in Berlin, zu der auch ein gleichnamiger Katalog erschienen ist.<br />

Erschienen im „<strong>Report</strong>“ im Juli <strong>20</strong>08 (online)<br />

82<br />

“Standing in a<br />

queue was the<br />

only manifestation<br />

of a civil society”<br />

Dan Mihaltianu “Under Ceausescu, the supply of basic foodstuffs<br />

deteriorated continuously. There were several reasons<br />

for this: the population was growing, the state was spending<br />

enormous sums of money on megalomanic projects and was<br />

also paying off its debts in order to remain independent.<br />

The consequences of this were that some products were<br />

rationed and could only be purchased by those people who,<br />

firstly, had registered themselves beforehand, and secondly<br />

were willing to endure a long wait in an endless queue.<br />

With time, the system of queueing became better organised.<br />

It was practically the only manifestation of civil society<br />

that existed, apart perhaps from the gatherings of football<br />

fans or of a few intellectuals in the resistance. Ironically<br />

enough, the Romanians were able to put their experiences<br />

of queueing to good use in the revolution in December 1989<br />

and in the years that followed.<br />

Of course, the shortages and the queueing did not have a<br />

very favourable effect on Romanian cuisine. People tried to<br />

help one another out, and cooking tips and recipes were exchanged<br />

while standing in night-long queues in front of the<br />

shops. But in general people’s dietary and shopping habits<br />

were considerably manipulated and traumatised. Not until<br />

the year <strong>20</strong>00 did society gradually begin to recover from<br />

this.<br />

The after-effects are still perceptible, even today. Many Romanians<br />

have developed strange habits – the hamster-like<br />

hoarding of food, the consumption of products that are past<br />

their best-by date, or the use of tinned goods rather than<br />

fresh food. Such unhealthy eating habits can only be done<br />

away with step for step.<br />

Luckily enough, the culinary experiments of Communism<br />

did not succeed in destroying the traditional way in which<br />

we enjoy our meals. Many recipes that I remember from my<br />

childhood have survived in their original form – for example,<br />

sarmale (meat balls wrapped in leaves of pickled cabbage),<br />

mamaliga (a kind of polenta) or telemea (feta cheese). At<br />

the same time, new threats have emerged, such a consumerism<br />

and fast food.”<br />

The artist Dan Mihaltianu, who was born in Bucharest in 1945, belongs to the Romanian art/project group Social<br />

Cooking Romania, which undertakes visual, artistic and social research into questions of nutrition and diet<br />

in relation to historical, economic and political occurrences. At the start of <strong>20</strong>08 the results of the research were<br />

presented by the artists collective at the exhibition “Social Cooking Romania”, shown at the “Neue Gesellschaft für<br />

Bildende Kunst” in Berlin, for which a catalogue of the same name was also published.<br />

Published in “<strong>Report</strong>” in July <strong>20</strong>08 (online)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!