Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall
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Eduard Steiner: Wie steht es denn mit Europa aus russischer Sicht?<br />
Fjodor Lukjanow: Die Sicht ist generell vom Geist einer historischen Konfrontation geprägt. Als<br />
die Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei begannen, habe ich in der österreichischen<br />
Presse von der Türkenbelagerung gelesen. Nach dem erfolgreichen 50-jährigen Experiment des<br />
Verfolgens einer völlig neuen Politik ist Europa heute bezüglich seiner weiteren Entwicklung ratlos.<br />
Dabei war noch vor sieben <strong>Jahre</strong>n das europäische Modell – auch in Amerika – ein Muster<br />
für die künftige Welt. Stattdessen nehmen wir eine Remilitarisierung wahr, ebenso wie den eskalierenden<br />
Wettstreit um die Energie, die geopolitische Zuspitzung, Widersprüche zwischen den<br />
Religionen, das Auftauchen neuer großer Mächte wie China als auch Russland, Iran und Kasachstan.<br />
Neue Theorien über die Erfolgsaussichten eines autoritären Kapitalismus werden aufgestellt.<br />
Europa will und kann an diesem Spiel nicht teilnehmen, denn mit Ausnahme der Briten und Polen<br />
ist niemand bereit, im Nahen oder vielleicht einmal im<br />
Fernen Osten zu kämpfen. Bleibt also die Frage: Ist Europa<br />
immer noch ein Modell der Zukunft oder eine Oase für ein<br />
historisches Experiment, das zwar förderlich, aber in der<br />
Welt absolut nicht anwendbar ist? Im Unterschied zu vielen<br />
Skeptikern glaube ich, dass Europa durchaus überleben<br />
kann, denn es ist ein ziemlich widerstandsfähiges Modell.<br />
Ist die EU vielleicht nicht das einzige und ausreichende Modell<br />
für eine europäische Integration?<br />
Das Modell steht nicht in Frage, es hat nur sein Potenzial erschöpft.<br />
Neue Länder können das Modell einstweilen nicht<br />
annehmen. Und Europa kann nicht alle, die wollen, aufnehmen.<br />
Die Ukraine hat gigantische Anstrengungen unternommen, um sich der russischen Einflusssphäre<br />
zu entziehen. Die „Orange Revolution“ passierte unter der Losung der europäischen<br />
Wahl. Und als die Demokratie gewann, machte Europa die Tür zu. So begann in der Ukraine das<br />
Problem. Sie weiß jetzt nicht, wo sie hinsoll.<br />
Sehen Sie darin die Annäherung der benachbarten und neuen EU-Länder an die USA begründet?<br />
Was Polen und die Balten betrifft, ist die Sache nicht in den Schwierigkeiten mit der EU begründet,<br />
sondern darin, dass diese Länder aus Angst vor Russland maximal auf das Sicherheitsproblem<br />
fixiert sind. Sie sind völlig überzeugt, dass ihnen nur die USA Sicherheit gewährleisten. Sie<br />
trauen den Europäern nicht, weil sie sich immer von ihnen verraten fühlten und einfach auch den<br />
militärischen Zustand der EU sehen. Auch glauben sie nicht an die NATO, die ohne die USA nichts<br />
vermag. Daher werden sie die USA mit allen Mitteln in die europäische Politik hineinziehen.<br />
Sie sagen, die Elite der neuen EU-Länder unterscheidet sich mental von den alten. Haben Letztere<br />
übersehen, sich darauf vorzubereiten?<br />
6<br />
Europa<br />
hat sich<br />
verschätzt<br />
Russland blickt mit gemischten Gefühlen auf Europa. Da nur wenige Russen einen Auslandsreisepass haben, geht die Vorstellung von Europa<br />
nicht über ein diffuses Bild hinaus. Im Interview mit „<strong>Report</strong>“ bezeichnet der Politik-Journalist Fjodor Lukjanow Europa als ein „Staatengebilde,<br />
das die Außengrenzen verriegelt und Nicht-EU-Länder herumirren und nach ihrer Zugehörigkeit suchen lässt“.<br />
— Eduard Steiner im Gespräch mit Fjodor Lukjanow —<br />
„Ist Europa immer noch ein Modell der<br />
Zukunft oder eine Oase für ein historisches<br />
Experiment, das zwar förderlich, aber in der<br />
Welt absolut nicht anwendbar ist? Im Unterschied<br />
zu vielen Skeptikern glaube ich, dass<br />
Europa durchaus überleben kann, denn es<br />
ist ein ziemlich widerstandsfähiges Modell.“<br />
Westeuropa hat das Ausmaß des Einflusses unterschätzt, den die Erweiterung auf Europa ausüben<br />
wird. Im Jahr <strong>20</strong>03 dachte man: Welchen Anspruch können solche Länder schon erheben, wenn<br />
sie ökonomisch so schwach sind, dass sie insgesamt die Wirtschaftsleistung Hollands erbringen?<br />
Europa hat sich verschätzt, indem es alles in der Größe des Bruttoinlandsproduktes zu messen<br />
versucht hat. Es gibt Dinge, die weitaus beständiger sind und nicht von der Lebensqualität abhängen.<br />
Polen verkörpert natürlich das Schlüsselland, weil es relativ groß ist und die Psychologie<br />
einer ehemaligen Großmacht aufweist.<br />
Und die Ideologie wird von der Religion bestimmt?<br />
Wovon sonst? Die sozialen Doktrinen bei uns funktionieren nicht. Es gibt sie nicht. Mit dem Zerfall<br />
des Kommunismus verschwand die Idee der sozialen Gerechtigkeit. Moderne Ideen der Gesellschaftsordnung<br />
– so weit sind wir noch nicht gereift. Die<br />
Religion und der Traditionalismus kehren nicht nur bei uns,<br />
sondern auf der ganzen Welt in verschiedenen Formen zurück.<br />
Das ist eine Reaktion auf die Globalisierung. Nach Pragmatismus<br />
und Marktterminologie kommt nun die Moralisierung<br />
hinzu.<br />
Bleibt der Westen für Russen attraktiv?<br />
Ja, als Standard eines Lebensniveaus und als Muster einer im<br />
Allgemeinen richtigen und effizienten Staatsordnung und eines<br />
sozialen Modells. Was das westliche Modell wirklich bedeutet,<br />
verstehen nur ganz wenige, denn wir gehen leider wieder zu<br />
einer traditionellen Matrix des Paternalismus über. Und wie<br />
der westliche Lebensstil aussieht, wissen die meisten nicht, weil sie gar keinen Reisepass fürs<br />
Ausland haben. Es herrscht die traditionelle russische Vorstellung, dass im Westen alles besser<br />
ist. Die Traditionalisten meinten, dass wir das nicht imitieren, weil wir es ohnehin nicht schaffen.<br />
Doch nun überwiegt das Gefühl, dass wir uns selbst genug sind, alles wissen und können und<br />
nichts brauchen.<br />
Fjodor Lukjanow ist seit <strong>20</strong>02 Chefredakteur des in Russisch (zweimonatlich) und Englisch (vierteljährlich) erscheinenden<br />
politischen Magazins „Russia in Global Affairs“. Der studierte Germanist und Dolmetscher arbeitete<br />
Anfang der 1990er <strong>Jahre</strong> für den internationalen Moskauer Radiosender „Die Stimme Russlands“. Danach war er<br />
Korrespondent für das internationale Ressort der Zeitungen „Segodnja“ und „Wremja MN“ und stellvertretender<br />
Chefredakteur der Zeitung „Wremja Nowostej“. Lukjanow spricht Deutsch, Schwedisch und Englisch.<br />
Das Journal „Russia in Global Affairs“ ist eine Gemeinschaftsgründung des Rates fur Außen- und Verteidigungspolitik,<br />
der russischen Industriellen- und Unternehmervereinigung und der Tageszeitung „Izvestija“.<br />
Das Interview führte Eduard Steiner, Korrespondent der Tageszeitung „Die Presse“ in Moskau. Das gesamte Interview<br />
ist im „<strong>Report</strong>“ 2/<strong>20</strong>07 erschienen.