09.11.2012 Aufrufe

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Eduard Steiner: Wie steht es denn mit Europa aus russischer Sicht?<br />

Fjodor Lukjanow: Die Sicht ist generell vom Geist einer historischen Konfrontation geprägt. Als<br />

die Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei begannen, habe ich in der österreichischen<br />

Presse von der Türkenbelagerung gelesen. Nach dem erfolgreichen 50-jährigen Experiment des<br />

Verfolgens einer völlig neuen Politik ist Europa heute bezüglich seiner weiteren Entwicklung ratlos.<br />

Dabei war noch vor sieben <strong>Jahre</strong>n das europäische Modell – auch in Amerika – ein Muster<br />

für die künftige Welt. Stattdessen nehmen wir eine Remilitarisierung wahr, ebenso wie den eskalierenden<br />

Wettstreit um die Energie, die geopolitische Zuspitzung, Widersprüche zwischen den<br />

Religionen, das Auftauchen neuer großer Mächte wie China als auch Russland, Iran und Kasachstan.<br />

Neue Theorien über die Erfolgsaussichten eines autoritären Kapitalismus werden aufgestellt.<br />

Europa will und kann an diesem Spiel nicht teilnehmen, denn mit Ausnahme der Briten und Polen<br />

ist niemand bereit, im Nahen oder vielleicht einmal im<br />

Fernen Osten zu kämpfen. Bleibt also die Frage: Ist Europa<br />

immer noch ein Modell der Zukunft oder eine Oase für ein<br />

historisches Experiment, das zwar förderlich, aber in der<br />

Welt absolut nicht anwendbar ist? Im Unterschied zu vielen<br />

Skeptikern glaube ich, dass Europa durchaus überleben<br />

kann, denn es ist ein ziemlich widerstandsfähiges Modell.<br />

Ist die EU vielleicht nicht das einzige und ausreichende Modell<br />

für eine europäische Integration?<br />

Das Modell steht nicht in Frage, es hat nur sein Potenzial erschöpft.<br />

Neue Länder können das Modell einstweilen nicht<br />

annehmen. Und Europa kann nicht alle, die wollen, aufnehmen.<br />

Die Ukraine hat gigantische Anstrengungen unternommen, um sich der russischen Einflusssphäre<br />

zu entziehen. Die „Orange Revolution“ passierte unter der Losung der europäischen<br />

Wahl. Und als die Demokratie gewann, machte Europa die Tür zu. So begann in der Ukraine das<br />

Problem. Sie weiß jetzt nicht, wo sie hinsoll.<br />

Sehen Sie darin die Annäherung der benachbarten und neuen EU-Länder an die USA begründet?<br />

Was Polen und die Balten betrifft, ist die Sache nicht in den Schwierigkeiten mit der EU begründet,<br />

sondern darin, dass diese Länder aus Angst vor Russland maximal auf das Sicherheitsproblem<br />

fixiert sind. Sie sind völlig überzeugt, dass ihnen nur die USA Sicherheit gewährleisten. Sie<br />

trauen den Europäern nicht, weil sie sich immer von ihnen verraten fühlten und einfach auch den<br />

militärischen Zustand der EU sehen. Auch glauben sie nicht an die NATO, die ohne die USA nichts<br />

vermag. Daher werden sie die USA mit allen Mitteln in die europäische Politik hineinziehen.<br />

Sie sagen, die Elite der neuen EU-Länder unterscheidet sich mental von den alten. Haben Letztere<br />

übersehen, sich darauf vorzubereiten?<br />

6<br />

Europa<br />

hat sich<br />

verschätzt<br />

Russland blickt mit gemischten Gefühlen auf Europa. Da nur wenige Russen einen Auslandsreisepass haben, geht die Vorstellung von Europa<br />

nicht über ein diffuses Bild hinaus. Im Interview mit „<strong>Report</strong>“ bezeichnet der Politik-Journalist Fjodor Lukjanow Europa als ein „Staatengebilde,<br />

das die Außengrenzen verriegelt und Nicht-EU-Länder herumirren und nach ihrer Zugehörigkeit suchen lässt“.<br />

— Eduard Steiner im Gespräch mit Fjodor Lukjanow —<br />

„Ist Europa immer noch ein Modell der<br />

Zukunft oder eine Oase für ein historisches<br />

Experiment, das zwar förderlich, aber in der<br />

Welt absolut nicht anwendbar ist? Im Unterschied<br />

zu vielen Skeptikern glaube ich, dass<br />

Europa durchaus überleben kann, denn es<br />

ist ein ziemlich widerstandsfähiges Modell.“<br />

Westeuropa hat das Ausmaß des Einflusses unterschätzt, den die Erweiterung auf Europa ausüben<br />

wird. Im Jahr <strong>20</strong>03 dachte man: Welchen Anspruch können solche Länder schon erheben, wenn<br />

sie ökonomisch so schwach sind, dass sie insgesamt die Wirtschaftsleistung Hollands erbringen?<br />

Europa hat sich verschätzt, indem es alles in der Größe des Bruttoinlandsproduktes zu messen<br />

versucht hat. Es gibt Dinge, die weitaus beständiger sind und nicht von der Lebensqualität abhängen.<br />

Polen verkörpert natürlich das Schlüsselland, weil es relativ groß ist und die Psychologie<br />

einer ehemaligen Großmacht aufweist.<br />

Und die Ideologie wird von der Religion bestimmt?<br />

Wovon sonst? Die sozialen Doktrinen bei uns funktionieren nicht. Es gibt sie nicht. Mit dem Zerfall<br />

des Kommunismus verschwand die Idee der sozialen Gerechtigkeit. Moderne Ideen der Gesellschaftsordnung<br />

– so weit sind wir noch nicht gereift. Die<br />

Religion und der Traditionalismus kehren nicht nur bei uns,<br />

sondern auf der ganzen Welt in verschiedenen Formen zurück.<br />

Das ist eine Reaktion auf die Globalisierung. Nach Pragmatismus<br />

und Marktterminologie kommt nun die Moralisierung<br />

hinzu.<br />

Bleibt der Westen für Russen attraktiv?<br />

Ja, als Standard eines Lebensniveaus und als Muster einer im<br />

Allgemeinen richtigen und effizienten Staatsordnung und eines<br />

sozialen Modells. Was das westliche Modell wirklich bedeutet,<br />

verstehen nur ganz wenige, denn wir gehen leider wieder zu<br />

einer traditionellen Matrix des Paternalismus über. Und wie<br />

der westliche Lebensstil aussieht, wissen die meisten nicht, weil sie gar keinen Reisepass fürs<br />

Ausland haben. Es herrscht die traditionelle russische Vorstellung, dass im Westen alles besser<br />

ist. Die Traditionalisten meinten, dass wir das nicht imitieren, weil wir es ohnehin nicht schaffen.<br />

Doch nun überwiegt das Gefühl, dass wir uns selbst genug sind, alles wissen und können und<br />

nichts brauchen.<br />

Fjodor Lukjanow ist seit <strong>20</strong>02 Chefredakteur des in Russisch (zweimonatlich) und Englisch (vierteljährlich) erscheinenden<br />

politischen Magazins „Russia in Global Affairs“. Der studierte Germanist und Dolmetscher arbeitete<br />

Anfang der 1990er <strong>Jahre</strong> für den internationalen Moskauer Radiosender „Die Stimme Russlands“. Danach war er<br />

Korrespondent für das internationale Ressort der Zeitungen „Segodnja“ und „Wremja MN“ und stellvertretender<br />

Chefredakteur der Zeitung „Wremja Nowostej“. Lukjanow spricht Deutsch, Schwedisch und Englisch.<br />

Das Journal „Russia in Global Affairs“ ist eine Gemeinschaftsgründung des Rates fur Außen- und Verteidigungspolitik,<br />

der russischen Industriellen- und Unternehmervereinigung und der Tageszeitung „Izvestija“.<br />

Das Interview führte Eduard Steiner, Korrespondent der Tageszeitung „Die Presse“ in Moskau. Das gesamte Interview<br />

ist im „<strong>Report</strong>“ 2/<strong>20</strong>07 erschienen.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!