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Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

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Antje Mayer: Seit 1989 ist Wien vom absoluten Rand in die Mitte einer<br />

neuen (alten) Kulturregion gerückt, die unter anderem von den Koordinaten<br />

der Metropolen Prag, Budapest, Bukarest und Belgrad definiert<br />

wird. Dein Leben ist von Wien geprägt, aber Wien wurde auch durch deine<br />

Biografie und die vieler anderer aus dem Ostblock und Ex-Jugoslawien<br />

Emigrierten geformt …<br />

Anna Jermolaewa: Ich habe selbst als Reinigungskraft in einer polnischen<br />

Firma in Wien begonnen. Wien ist die Stadt der jugoslawischen<br />

Hausmeister, der polnischen Bauarbeiter und Reinigungskräfte, der<br />

kaukasischen Gemüseverkäufer am Naschmarkt, der ukrainischen Prostitutierten<br />

am Gürtel und der russischen Oligarchen im ersten Bezirk.<br />

Aber nicht nur. Nach der Wende sind viele junge Leute wie ich aus dem<br />

Osten emigriert, um in Wien Kunst zu studieren, und viele sind geblieben.<br />

Sie alle prägen mit ihrem slawischen Temperament und ihren ungewöhnlichen<br />

Biografien die Stadt, die sich zwischen einer Kindheit im<br />

Kommunismus, aber auch Flucht oder Krieg bewegen. Ohne sie wäre<br />

die Kunstszene in Wien nicht das, was sie ist. Der Austausch mit den<br />

Nachbarstädten wie Bratislava, Sofia, Prag und Bukarest ist in Wien deswegen<br />

extrem intensiv, zumindest hinter den offiziellen Kulissen. Übrigens<br />

nicht zuletzt wegen der guten Verkehrsanbindungen von Wien in<br />

den Osten, zumindest in der Luft. Billig-Airlines wie Sky Europe tragen<br />

da ihr Scherflein dazu bei. Ihre Werbesprüche spielen ironisch mit den<br />

Ostklischees: „Nach Prag: Wo Karel GOTT ist.“ Oder: „Nach Warschau:<br />

Besuchen Sie doch einmal Ihren Handwerker!“<br />

Wien scheint sein Potenzial als kulturelle Drehscheibe in der Region Ost-<br />

und Mitteleuropa aber noch immer nicht so richtig erkannt zu haben.<br />

Nachdem ich den verhältnismäßig hoch dotierten T-Mobile Art Award<br />

verliehen bekommen hatte, klopfte alsbald ein Steuerprüfer an meine<br />

Tür. Er meinte zu meiner Steuerberaterin: „Wozu brauchen wir in Wien<br />

russische Künstlerinnen, haben wir nicht genug eigene?“ Als ich diese<br />

Geschichte einer Kollegin erzählte, gab sie mir einen Tipp: „Versuch es<br />

ihm so zu erklären: Du machst die Arbeit, die deine österreichischen<br />

Künstlerkollegen nicht machen wollen.“<br />

Du bist in St. Petersburg geboren und von dort 1989 aus politischen<br />

Gründen geflüchtet. Als Mitherausgeberin der legendären Samisdat-<br />

Zeitschrift „Demokratische Opposition“ warst du ins Visier der Behörden<br />

geraten. Eigentlich mehr aus Zufall bist du in Wien gelandet und<br />

geblieben. Ist dein Leben als künstlerische Gastarbeiterin so angenehm<br />

in Wien?<br />

Gegen uns war in Russland ein Haftbefehl ausgeschrieben, wir mussten<br />

praktisch über Nacht flüchten. Mein damaliger Mann und ich lebten<br />

40<br />

Anna Jermolaewa flüchtete vor fast zwei Jahrzehnten aus<br />

politischen Gründen aus St. Petersburg nach Wien. Sie lernte<br />

Deutsch, studierte Kunstgeschichte, schrieb sich nach<br />

ihrem Abschluss an der Akademie für bildende Kunst in<br />

Wien ein. Heute ist sie Professorin für Medienkunst an der<br />

Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe im Zentrum<br />

für Kunst und Medientechnologie und eine international<br />

gefragte Künstlerin.<br />

Antje Mayer im Gespräch mit Anna Jermolaewa<br />

nach unserer Ankunft eine Woche am Westbahnhof. Alles, was wir besaßen,<br />

waren die Kleider, die wir am Körper trugen. Wir gingen aus Angst,<br />

von der Polizei erwischt zu werden, kaum vor die Tür. Wir hatten kein<br />

Geld, um Essen zu kaufen, sprachen kein Deutsch, niemand nahm sich<br />

unser an, mir kam diese Stadt fremd und unzugänglich vor. Ich hasste<br />

Wien.<br />

Mittlerweile liebe ich diese Stadt. Wenn ich auf dem Naschmarkt Gemüse<br />

kaufe, kann ich Russisch mit den Verkäuferinnen plaudern. Einer der<br />

Marktstandler fragte mich einmal, was ich so mache. Ich sagte: „Videos.“<br />

Er blinzelte mir zu. Man sah ihm an, er hat verstanden: Ich mache Pornovideos.<br />

Das alles ist ein Stück Heimat für mich geworden.<br />

Aber kann diese kleine „Weltmetropole“ nicht manchmal lähmend gemächlich<br />

sein?<br />

Ich empfinde das als positiv, eine ideale Umgebung, um konzentriert<br />

kreativ zu arbeiten, sich kulturell weiterzubilden – allein das Filmmuseum<br />

ist schon ein Juwel – und Energie zu tanken, im Sommer bei der<br />

Donauinsel zu baden und im Winter auf der Alten Donau eiszulaufen.<br />

Nicht umsonst leben und arbeiten so viele international erfolgreiche<br />

Künstler in dieser Stadt: Franz West, gelitin, Elke Krystufek, VALIE EX-<br />

PORT, Martin Guttmann, Peter Kogler oder Maria Lassnig, um nur ein<br />

paar zu nennen.<br />

Alles ist hier ums Eck, du triffst noch Leute von Angesicht zu Angesicht<br />

und nicht im Chatroom. Das kulturelle Angebot ist im Vergleich zur<br />

Größe der Stadt enorm. Jeden Tag finden mehrere gute Kulturevents<br />

statt, eröffnet ein Off-Space, ein Museum oder eine Galerie eine Vernissage.<br />

Das Musikangebot ist traditionell riesig, viele Dinge passieren am<br />

Schnittpunkt zwischen Musik, Mode, darstellender und bildender Kunst,<br />

viel institutionell, viel durch eigene Initiativen.<br />

Warum gedeiht die Kunst so gut im Wiener Biotop?<br />

Sammler zeitgenössischer Kunst gibt es in Wien nur wenige. In Wien<br />

wird Kunst nicht verkauft, aber kommuniziert. Die Erde, auf der die<br />

Kunst in Wien sprießt, wird eher von staatlicher Seite gut gedüngt. Die<br />

Unterstützungen für zeitgenössische Künstler von Land und Bund sind<br />

in Österreich, etwa im Vergleich zu Deutschland, außergewöhnlich. Es<br />

gibt die Galerienförderung, Ateliers werden finanziert, Stipendien ausgeschrieben,<br />

Preise vergeben und so fort. Ich gebe zu, ich habe manchmal<br />

schon mit dem Gedanken gespielt, nach New York zu ziehen, weil<br />

meine gesamte Familie inzwischen in die USA ausgewandert ist. Aber<br />

wie soll ich dort meine Kunst ausüben, wenn ich drei Jobs nachgehen<br />

muss, um meine Ateliermiete zu zahlen? Meine ausländischen Kollegen<br />

beneiden mich um dieses „Künstler-Schlaraffenland“.<br />

Anna Jermolaewa (geboren 1970 in St. Petersburg),<br />

diplomierte an der Wiener Universität im Fach Kunstgeschichte<br />

und an der Akademie der bildenden Künste<br />

Wien in den Fächern Malerei, Grafik und Neue Medien.<br />

Seit <strong>20</strong>05 ist sie Professorin für Medienkunst an der<br />

Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe im<br />

ZKM in Deutschland. Ihre Werke sind in zahlreichen<br />

internationalen Einzel- und Gruppenaustellungen zu<br />

sehen.<br />

Ausstellungsauswahl:<br />

1999: „dAPERTutto (APERTO over ALL)“ auf der 48.<br />

Biennale von Venedig. <strong>20</strong>00: Institute of Visual Arts,<br />

Milwaukee, USA (solo); <strong>20</strong>01: Recent Acquisitions im<br />

Stedelijk Museum, Amsterdam; „Ars 01“ im Museum<br />

für zeitgenössische Kunst Kiasma, Helsinki. <strong>20</strong>02:<br />

Ursula-Blickle-Stiftung, Kraichtal-Unteröwisheim (solo).<br />

<strong>20</strong>03: „Nice and Easy“ im Sprengel Museum, Hannover.<br />

<strong>20</strong>04: Museum Moderner Kunst, Passau (solo). <strong>20</strong>08:<br />

XL Gallery, Moskau (solo).<br />

Dieses Interview ist erschienen in:<br />

Antje Mayer, Rita Vitorelli (Hrsg):„spike Art Guide East. A<br />

Briefing on Contemporary Art and Culture in Central and<br />

Eastern Europe“, Volume 1, spike, Wien <strong><strong>20</strong>09</strong>

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