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Report_Issue 1/2009 - Jubiläum/ 20 Jahre Mauerfall

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Jede Sprache hat einen emotionalen Code. Wer den Code der Fremdsprache<br />

entschlüsselt, kann die Mentalität der Menschen und deren<br />

Kultur begreifen.<br />

Denn in der Sprache liegen die Affektionen und<br />

Leidenschaften des Menschen. Man wächst in<br />

einer Sprache wie in einer Familie auf, lernt<br />

dabei die Sprachmelodie, die Sprachregeln und<br />

das gesamte Sprachsystem kennen und man<br />

wird unbewusst dadurch geformt. Die Sprache<br />

erzieht uns und verleiht unserem Ich-System<br />

ihre innere Ausstrahlung, Emotionalität und<br />

Leidenschaft. In jeder Sprache besteht ein anderes<br />

Verhältnis zur Leidenschaft und ruft eine<br />

andere Gemütsbewegung durch den Sprachklang,<br />

die Sprachstruktur und Schnelligkeit<br />

ihrer Verwendung hervor. Es gibt Sprachen,<br />

die lebhaft oder sanghaft sind, während andere<br />

weniger beseelt und kälter klingen. Und<br />

wir wählen dann auch diejenigen Fremdsprachen,<br />

die unserem Empfinden entsprechen. Die<br />

Sprachmelodie, der Klang der Wörter an sich<br />

reichen jedoch nicht für befriedigende Gespräche<br />

aus. Die Leidenschaft der Sprache erkaltet<br />

dann durch die Sinnlosigkeit und Bedeutungslosigkeit<br />

der gewählten Wörter.<br />

Das Niveau der Sprache<br />

ist das Niveau des Intellekts<br />

Es ist die Sprache, die uns hilft, Probleme jeder<br />

Art zu verbalisieren. Probleme zu begreifen bedeutet,<br />

jedem Problem einen Begriff zuzuordnen,<br />

um es lösen zu können. Denn das Unvermögen,<br />

sich auszudrücken, führt zum Problem<br />

und das ungelöste Problem macht sprachlos,<br />

kraftlos und schließlich auch krank. Man bemüht<br />

sich um die Entwicklung der eigenen<br />

Sprache, indem man den Intellekt anstrengt.<br />

Wir wollen unseren lebendigen, kräftigen Kern<br />

beibehalten und freuen uns über die eigenen<br />

Gedanken. Um an die eigene Sprache Ansprüche<br />

zu stellen, muss man sich selbst beim<br />

Sprechen und Denken beobachten. Man blickt<br />

bei jedem Wort in sich hinein und will jedes<br />

Wort in seiner Bedeutung und dem Sinn nach<br />

verstehen. Das gesprochene Wort regt unsere<br />

Aufmerksamkeit an und beansprucht unseren<br />

Intellekt. Wir freuen uns über unseren Kraftaufwand!<br />

Welches Spiel der Kräfte! Wir wollen<br />

uns ausreichend gerüstet fühlen, um gegen das<br />

in unserer Gesellschaft verbreitete Übel anzukämpfen,<br />

nur über einen kleinen Umfang an<br />

Wörtern zu verfügen. Es ist kein öffentlicher<br />

Kampf, es ist ein Kampf mit sich selbst gegen<br />

sich selbst. Nur wir errichten uns Hindernisse<br />

und überwinden sie freiwillig. Wer denn, außer<br />

wir selbst, ist unser Richter!? Die intellektuelle<br />

Unzufriedenheit, die wir dabei erleben, zwingt<br />

uns, die eigene Sprache zu verbessern. Die fehlenden<br />

Worte können auch durch Gesten ersetzt<br />

werden. Aber fühlen wir uns nicht gedemütigt,<br />

wenn wir die Gestik dort verwenden, wo uns die<br />

Worte in unserer Muttersprache fehlen? Wir gestehen<br />

unmittelbar ein, dass wir nicht nur große<br />

Lücken in unserem Wortschatz haben, sondern<br />

auch in unserem Denken und in unserer<br />

Lebenserfahrung. Ja, die Sprache demütigt uns<br />

und treibt uns in die Enge. Sie erzieht uns. Das<br />

gesprochene Wort über die Geste zu stellen ist<br />

anstrengend, aber es formt unser Denken. Die<br />

Sprache ist nicht nur ein Instrument zur Verständigung,<br />

sondern auch eines zur Füllung der<br />

eigenen Leere. Es ist bekannt, dass jede Sprache<br />

eine formale, ja emotionslose Struktur hat,<br />

62<br />

die im Alltag gedankenlos, gewohnheitsmäßig<br />

verwendet wird. Diese Struktur erspart dem<br />

Sprechenden das Nachdenken, das kritische<br />

Betrachten der angedeuteten Problematik und<br />

das Einfühlen. Die Verwendung von Phrasen,<br />

den Ersatzteilen des eigenen Denkens, führt zur<br />

Aushöhlung des Kerns unseres Ichs. Der Kern<br />

ist unsere Energie und die emotionale Kraft.<br />

Das Wort verliert Leben und Glut. Es fehlt an<br />

jedem Fortschritt. Man neigt dazu, sich in der<br />

Gesellschaft einfach, emotionslos und klischeehaft<br />

auszudrücken. Das reine Imitieren der<br />

Wörter, die Beredsamkeit ist nur ein Zeichen<br />

der Intellektsgrenze. Der Inhalt der Wörter ist<br />

leer. Man imitiert lieber die schon gegebenen<br />

Wörter, als sie aufs Neue zu produzieren. Man<br />

zieht vor, Ansichten zu schematisieren und Gedanken<br />

zu fingieren, sei es aus Bequemlichkeit,<br />

um die eigene innere Leere zu füllen.<br />

Die Sprache erzieht uns und<br />

verleiht unserem Ich-System<br />

ihre innere Ausstrahlung,<br />

Emotionalität und Leidenschaft.<br />

Die Sprache wird durch die Verwendung von<br />

Phrasen langweilig und deutet direkt auf die<br />

„Selbstlosigkeit“ des Sprechenden. Man fragt<br />

sich dann: Wie sieht es etwa im Inneren des<br />

Menschen aus, wenn er in seiner Sprachschöpfung<br />

und in der Tiefe seiner Gedankenfindung<br />

langweilig ist? Man spürt, dass das Denken der<br />

sprechenden Person wirklich nichts wiegt und<br />

es eigentlich krank ist. Beim Sprechen werden<br />

sich die Tiefe des Denkvermögens und die kritische<br />

Selbstbeobachtung von selbst zu erkennen<br />

geben. Der denkende Mensch schützt sich gegen<br />

die Bedrohung der Begeisterung, gegen die<br />

Unterdrückung der Energie und des Intellekts,<br />

die in der Sprache verborgen sind. Wir möchten<br />

eifrig beim Sprechen, am Aufbau der Wörter,<br />

der Fragen und Antworten arbeiten und<br />

so die Originalität der Sprache buchstabieren.<br />

Die Gedanken, die Genauigkeit der Bezüge machen<br />

aus der Sprache die Sprache. Wir gehen<br />

evident davon aus: Wenn ein Mensch krank<br />

ist, dann ist es auch seine Sprache. Wir wollen<br />

aber gesund sein und werden. Stellen wir uns<br />

(immer wieder) die Frage und beantworten wir<br />

sie aufrichtig, um uns selbst im Licht oder im<br />

Schatten zu sehen: Was drücke ich durch meine<br />

Sprache aus?<br />

Die tschechisch-deutsche Schriftstellerin, Übersetzerin<br />

und Dolmetscherin Milena Oda (geb. 1975 in Jičin) lebt<br />

in Berlin und war im Jänner und Februar <strong>20</strong>05 Gast im<br />

Atelier Top 22 des Literaturhauses Niederösterreich.<br />

Sie studierte Germanistik und Geschichte in Olomouc/<br />

Olmütz (CZ), Bayreuth, Salzburg und Klagenfurt. Seit<br />

<strong>20</strong>01 ist sie Autorin von Prosa und Theaterstücken.<br />

„Piquadrat“, ein besonderes Kunstbuch, erschien <strong>20</strong>07<br />

als bibliophile Ausgabe im Verlag Buchenpresse Dresden.<br />

www.milenaoda.com<br />

Erschienen im „<strong>Report</strong>“ 1/<strong>20</strong>05<br />

Every language has its own emotional code. Whoever can decipher the<br />

code of a foreign language can then understand the mentality and the<br />

culture of the people who use it.<br />

— Ein literarischer Essay von Milena Oda — — A literary essay by Milena Oda —<br />

The affections and passions of humanity are<br />

contained in language. We grow up in a language<br />

like in a family, learning its melody and<br />

rules and indeed its entire linguistic system,<br />

and this unconsciously forms us. Language<br />

educates us and gives our ego system its inner<br />

radiance, emotion and passion. Each language<br />

has a different relationship to passion and stimulates<br />

different emotions through its sound and<br />

structure and the speed with which it is spoken.<br />

There are some languages that are lively and<br />

song-like, whereas others sound less animated<br />

and somewhat colder. We generally choose to<br />

learn those foreign languages that match our<br />

personal sensibility. The melody of language<br />

and the sound of words are not enough to create<br />

a satisfactory language. The passion of language<br />

can grow cold through the meaninglessness<br />

and senselessness of the words chosen.<br />

The Level of the Language<br />

is the Level of the Intellect<br />

Language helps us to verbalise problems of<br />

all kinds. Understanding problems means describing<br />

them in order to solve them. The inability<br />

to express ourselves leads to a problem<br />

and this unsolved problem makes us speechless,<br />

powerless, and ultimately also makes us<br />

ill. We attempt to develop our own language<br />

through intellectual effort. We aim to preserve<br />

our living, powerful essence and we delight in<br />

our own ideas. To make demands on language<br />

we must examine the way we speak and think.<br />

With each word we look inside ourselves, seeking<br />

to understand the significance and meaning<br />

of every single word. The spoken word attracts<br />

our attention and makes a demand on our intellect.<br />

We are glad to make this effort! What a<br />

play of forces! We want to feel adequately armed<br />

to battle against wide-spread evil in our society<br />

of commanding only a limited range of words.<br />

This is not a public battle; it is a struggle with<br />

ourselves, against ourselves. We erect our own<br />

obstacles and voluntarily overcome them. Who<br />

– if not we ourselves – should be our judge?<br />

The intellectual dissatisfaction we experience<br />

in the course of this process compels us to improve<br />

our language. Gestures can also replace<br />

the words we lack. But don’t we feel ashamed<br />

when we have to use a gesture simply because<br />

we can’t find the right word in our native language?<br />

We immediately admit that, not only<br />

are there enormous gaps in our vocabulary,<br />

but also in our thoughts and in our experience<br />

of life. Yes, language humiliates us and drives<br />

us into a corner. It educates us. To prefer the<br />

spoken word to the gesture is demanding, but<br />

it shapes our way of thinking. Language is not<br />

merely an instrument we use to make ourselves<br />

understood; it is also used to fill our own emptiness.<br />

It is a known fact that every language has<br />

a formal, indeed unemotional structure that is<br />

habitually used daily without much reflection.<br />

This structure saves the person speaking from<br />

having to reflect, having to critically observe<br />

the indicated problem or from having to empathize.<br />

The use of phrases that are like spare<br />

parts of our individual thought tends to hollow<br />

out the core of our being. This core is the<br />

source of our energy and emotional strength.<br />

The word loses its life and fervour. Any form<br />

of progress is missing. In society we tend to<br />

express ourselves simply, unemotionally and<br />

in clichés. Eloquence or the pure imitation of<br />

words is only a sign of the boundaries of the intellect.<br />

The words have no content. We prefer to<br />

imitate existing words rather than produce new<br />

ones. We prefer to present schematic views and<br />

to feign ideas, perhaps because this is easier to<br />

do, in order to fill our own inner emptiness.<br />

Language educates us and<br />

gives our ego system its inner<br />

radiance, emotion and<br />

passion.<br />

Readymade phrases make language tedious<br />

and are a direct indication of the “selflessness”<br />

of the person speaking. We then ask ourselves:<br />

what must the inner life of someone be like,<br />

when their use of language and the thoughts<br />

they discover in the depths of their being are<br />

so boring? We notice that the speaker’s way of<br />

thinking is of no consequence and is, in fact,<br />

sick. We reveal the depths of our ability to think<br />

and our critical observation of ourselves when<br />

we speak. Thinking persons protect themselves<br />

against the threat of enthusiasm, against the<br />

suppression of energy and intellect that are<br />

concealed in language. We wish to work assiduously<br />

at speaking, at building up words,<br />

questions and answers and thus to spell out the<br />

originality of language. Evidently, we assume<br />

that when a person is ill then the language he<br />

uses is also sick. But we ourselves want to become<br />

and remain healthy. We ought to repeatedly<br />

ask ourselves a question that should be<br />

answered honestly, in order to see ourselves,<br />

whether in light or shadow: What do I express<br />

through my language?<br />

Czech-German writer, translator and interpreter Milena<br />

Oda was born in 1975 in Jičin and now lives in Berlin. In<br />

January and February <strong>20</strong>05 she was a guest in Atelier<br />

Top 22 of the Literaturhaus Niederösterreich. She studied<br />

history and German language and literature in Olomouc/<br />

Olmütz (CZ), Bayreuth, Salzburg and Klagenfurt. She has<br />

been engaged in writing prose and plays since <strong>20</strong>01. “Piquadrat”,<br />

a special artbook was published <strong>20</strong>07 in a bibliophilic<br />

edition by Verlag Buchenpresse Dresden.<br />

www.milenaoda.com<br />

Published in “<strong>Report</strong>” 1/<strong>20</strong>05

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