Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und ...
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5.3 Rechtsetzung<br />
Im Hinblick auf die Rechtsetzung ergibt sich für das AGG der bereits in den Anhörungen<br />
des Gesetzgebungsverfahrens vereinzelt geäußerte Handlungsbedarf, um mehrdimensionale<br />
<strong>Diskriminierung</strong> umfassend bekämpfen zu können.<br />
Zunächst würde eine offene Liste in § 1 AGG dazu beitragen, auch mehrdimensionale <strong>Diskriminierung</strong><br />
angemessen berücksichtigen zu können. § 75 BetrVG ist hier ein positives<br />
Beispiel. Schon jetzt gibt es Fälle, in denen stereotypisierende Kategorisierungen („Ossi“,<br />
„Ausländer“) nicht adäquat adressiert werden. Sinnvoll erschiene eine Formulierung wie<br />
„insbesondere“, die auch der Rechtsprechung die Möglichkeit lässt, das Recht fortzuentwickeln<br />
<strong>und</strong> auf „neue“ oder nicht bedachte Kategorisierungen zu reagieren. Um Missbrauch<br />
zu vermeiden, sollte eine entsprechende Änderung in der Gesetzesbegründung<br />
erläutert werden. Denn <strong>Diskriminierung</strong> knüpft nicht an beliebige Differenzen an, sondern<br />
an historisch verfestigte Ungleichheiten hinsichtlich Anerkennung, Ressourcenverteilung<br />
<strong>und</strong> Chancen. Besonders problematisch ist derzeit die Verbindung der Kategorien mit<br />
einem „oder“ in § 1 AGG. Diese Formulierung suggeriert ein Nebeneinander, keine Verschränkung.<br />
Eine Änderung würde hier auch zu einer Sensibilisierung für die Problematik<br />
beitragen, nicht nur bei Richterinnen <strong>und</strong> Richtern <strong>und</strong> Rechtsbeiständen. Dies hätte<br />
vermutlich positive Auswirkungen auf die Rechtsdurchsetzung.<br />
Des Weiteren sollte darauf hingewirkt werden, jeder Form der Hierarchisierung zwischen<br />
verschiedenen <strong>Diskriminierung</strong>en durch unterschiedliche Anwendungsbereiche innerhalb<br />
des AGG <strong>und</strong> durch unterschiedliche Rechtfertigungen <strong>–</strong> insbesondere § 9 AGG <strong>–</strong><br />
entgegenzutreten.<br />
Auch mit Blick auf die Rechtsfolgen besteht offenk<strong>und</strong>ig Handlungsbedarf, da die europäische<br />
Verpflichtung zu wirksamen, verhältnismäßigen <strong>und</strong> abschreckenden Sanktionen<br />
bislang in Deutschland nicht umgesetzt wird. Deutliche Entscheidungen mit spürbaren<br />
Schadensersatzsummen sind bislang nicht zu finden. Hier muss eine dogmatisch überzeugende<br />
rechtstechnische Lösung gef<strong>und</strong>en werden. Im Hinblick auf mehrdimensionale<br />
<strong>Diskriminierung</strong> sprechen überwiegende Gründe dafür, nicht additiv zu agieren <strong>und</strong><br />
pauschal eine Erhöhung von Schadensersatz- oder Schmerzensgeldzahlungen zu erwarten.<br />
Vielmehr sollten die Umstände des Einzelfalls entscheiden. Wichtig ist dann allerdings<br />
umso mehr, dass diese kompetent beurteilt werden.<br />
5.4 Rechtsdurchsetzung<br />
Mit Blick auf mehrdimensionale <strong>Diskriminierung</strong> gibt es, soweit diese Expertise dies aufweisen<br />
kann, besondere Hürden. Allerdings wäre auch hier vertiefende rechtssoziologische<br />
Forschung zur Rechtsmobilisierung sinnvoll <strong>und</strong> für die weitere Überzeugungsarbeit<br />
bei Gerichten <strong>und</strong> in der Anwaltschaft hilfreich, damit der Abbau von Hürden auf empirischen<br />
Daten <strong>und</strong> nicht auf stereotypisierenden Vermutungen fußen kann. Dabei sollten<br />
Zusammenhänge zwischen dem gehäuften Vorkommen von <strong>Diskriminierung</strong> durch staatliche<br />
Institutionen <strong>und</strong> mangelndem Vertrauen in Gerichte berücksichtigt werden.<br />
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