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Grundrechte - Marcel Küchler

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Prof. Dr. Walter Kälin SS 1998<br />

4., überarbeitete Version 2001 <strong>Grundrechte</strong><br />

Die Familie des auf dem Hof St. Martin in der Gemeinde St. Martin als Landwirt tätigen Silvester<br />

Derungs spricht romanisch, wie das angeblich seit alters auf diesem Gehöft der im übrigen<br />

deutschen Valsergemeinde St. Martin der Fall ist. Als der älteste Sohn schulpflichtig<br />

wurde, schickte ihn der Vater nicht in die Schule der Wohngemeinde, sondern in jene von<br />

Ternaus, damit er in seiner Muttersprache unterrichtet werde. Zunächst erhob die Gemeinde<br />

Ternaus kein Schulgeld, und die Gemeinde St. Martin übernahm die Kosten für die auswärtige<br />

Mittagverpflegung. 1969 wurde der zweite, 1971 der dritte Sohn schulpflichtig. Sie besuchten<br />

ebenfalls die romanische Schule in der Nachbargemeinde. Die Gemeinde Ternaus<br />

verlangte von 1969 an ein Schulgeld. Von 1969 an übernahm die Gemeinde St. Martin die<br />

Kosten für die auswärtige Verpflegung nicht mehr. Bis 1972 zahlte Derungs Schulgeld und<br />

Verpflegungskosten selber, seither weigert er sich, das Schulgeld zu entrichten.<br />

Im April 1973 stellte er bei der Gemeinde St. Martin das Gesuch um Übernahme der Schulgelder<br />

und Kosten für auswärtige Verpflegung. Das Gesuch wurde am 5.5.1973 abgelehnt.<br />

Gleichzeitig wurde aber Derungs mitgeteilt, dass seine Kinder unentgeltlich Unterricht und<br />

Mittagsverpflegung erhalten würden, wenn sie die Schule in Lunschania besuchen würden.<br />

Gegen diesen Beschluss ergriff Derungs die kantonalen Rechtsmittel und gelangte schliesslich<br />

mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4, 27 Abs. 2 und 116<br />

Abs. 1 aBV an das Bundesgericht.<br />

2.2 Religion (Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit)<br />

MÜLLER, <strong>Grundrechte</strong>, 80 ff. [53 ff.]; WYSS MARTIN PHILIPP, Vom Umgang mit dem<br />

Transzendenten, recht 1998, S. 173 ff.<br />

A) Verfassungsbestimmung (Art. 15 und 72 II [49 und 50] BV)<br />

Art. 15 II, IV [49 I, II] BV umschreiben den Kerngehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit:<br />

der Kerngehalt umfasst zunächst das Recht, eine bestimmte Religion oder<br />

weltanschauliche Überzeugung haben zu dürfen, und, als zweites, nicht zur Teilnahme<br />

an einer Religionsgemeinschaft, einer religiösen Handlung oder religiösem Unterricht<br />

gezwungen zu werden. Die Kultusfreiheit, d.h. das Recht, eine religiöse Überzeugung<br />

allein oder mit andern (öffentlich) zu bekennen (Art. 15 II [50] BV), hingegen gehört nicht<br />

zum Kernbereich; sie kann, soweit ein öffentliches Interesse besteht, eingeschränkt<br />

werden (Art. 72 II [50] BV).<br />

Bisher hatte die Verfassung in Art. 49 III aBV den Eltern die religiöse Erziehung bis<br />

zum 16. Altersjahr des Kindes zugestanden bzw. das Kind ab 16 Jahren für religiös<br />

mündig erklärt. Diese Bestimmung ist nun weggefallen, da das ZGB in Art. 303 wie<br />

bisher dasselbe bestimmt. (Damit ist im Übrigen ein typischer Fall von Drittwirkung weggefallen.) 3<br />

Ebenfalls weggefallen ist die recht kernige Bestimmung von Art. 49 V der alten BV,<br />

deren Aussage „Religion ist keine Entschuldigung für Rechtsbruch.“ in dieser Absolutheit<br />

zwar nicht richtig war: denn wenn rechtliche Pflichten religiöse Überzeugungen<br />

und Gefühle Einzelner verletzen, ist nach dem Eingriffsschema zwischen Religionsfrei-<br />

3 mk. Gerade umgekehrt müsste an sich darüber nachgedacht werden, ob nicht die religiöse Erziehung<br />

durch Eltern, Schule oder Kirchen bis zum 16. Altersjahr ganz untersagt werden sollte: macht doch der<br />

von den Eltern ausgeübte Einfluss auf das Kind vor diesem Alter eine spätere, wirklich freie Religionswahl<br />

illusorisch, da Religion ihrem tiefsten Wesen nach nicht tolerant sein kann. Zudem wäre zu<br />

überlegen, ob nicht die Religionsfreiheit als Grundrecht aufgegeben und religiöse Vereinigungen ganz<br />

einfach der Wirtschaftsfreiheit unterstellt werden sollten (bzw. die Ausübung von Religion durch den<br />

Einzelnen der persönlichen Freiheit). Ist doch nur schwer einzusehen, weshalb der Religion neben den<br />

andern Angeboten der Freizeit- und Selbstfindungsindustrie eine Sonderstellung zukommen soll.<br />

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