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Grundrechte - Marcel Küchler

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Prof. Dr. Walter Kälin SS 1998<br />

4., überarbeitete Version 2001 <strong>Grundrechte</strong><br />

Unter den herrschenden sozialen Verhältnissen gehe die Förderung von Frauen stets auf Kosten<br />

der Männer (d.h. Art. 4 I aBV gerät mit Art. 4 II aBV in Konflikt). Im konkreten Fall<br />

würde ein Mann, der mehr Stimmen auf sich vereinigen könnte als jede Frau dennoch als<br />

nicht gewählt angesehen, bis 50% der Sitze mit Frauen besetzt wären.<br />

Die Bevorzugung der einen Verfassungsbestimmung vor der andern würde also einerseits zu<br />

einer Benachteiligung der Männer oder aber – wenn das Grundrecht aus Art. 4 I aBV bevorzugt<br />

würde – zu einem Verbot aller Förderungsmassnahmen führen.<br />

Deshalb betrachtet das BGer beide Bestimmungen als gleichberechtigt. Im Falle des Konfliktes<br />

ist nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz auf pragmatische Art und Weise ein<br />

Ausgleich zu finden. D.h. es bedarf der Abwägung zwischen der Förderung der Frauen und<br />

der Schlechterstellung der Männer indem geprüft wird, ob die Belastung der Männer „in einem<br />

vernünftigen Verhältnis zum Regelungsziel steht“.<br />

Das BGer führt aus, Art. 4 II aBV bezwecke nicht die Gleichheit des Resultates, sondern die<br />

Gleichheit der Chancen. Die Ungleichbehandlung wäre sonst zu gross. Ausserdem wäre ein<br />

zentraler Grundsatz unserer Rechtsordnung: die Gleichheit der Stimme, verletzt.<br />

Der vorliegende Fall betrifft im Übrigen ein Grundproblem der Rechtsprechung: die soziale<br />

Realität ist geprägt von Ungleichheiten (soziale Stellung usf.). Viel von dieser Ungleichheit<br />

muss hingenommen werden. Nur dort, wo die Ungleichheit derart gross ist, dass sie nicht<br />

hingenommen werden kann, bedarf es der Massnahmen.<br />

BGE 125 I 21 ff.: Urner Wahlchancen-Initiative: Gültige und ungültige Frauenquoten<br />

Die im April 1996 beim Urner Regierungsrat eingereichte Volksinitiative für gleiche Wahlchancen<br />

verlangt zunächst, dass alle gewählten Behörden und Kommissionen – ausgenommen<br />

der Landrat (Kantonsparlament) – annähernd je zur Hälfte mit Frauen und Männern<br />

besetzt werden müssen, wobei der Anteil eines Geschlechts nicht unter einem Drittel liegen<br />

darf. Für die Proporzwahl in den Landrat sieht das Volksbegehren vor, dass die gedruckten<br />

Wahllisten gleich viele männliche wie weibliche Kandidaten enthalten müssen, wobei aus<br />

arithmetischen Gründen in Wahlkreisen mit gerader Sitzzahl eine Differenz von einem Namen<br />

zulässig bleibt. Für Gemeinden mit zwei Sitzen schreibt die Initiative eine paritätische<br />

Quote von je einem Vertreter der beiden Geschlechter vor, während in Einerwahlkreisen das<br />

Wahlrecht des Souveräns gewahrt bliebe. Diese Regelung hatte der Landrat auf Antrag des<br />

Regierungsrats für ungültig erklärt, weil sie unter anderem gegen das Gebot der Rechtsgleichheit<br />

und gegen die politische Wahlfreiheit verstosse. Auf eine staatsrechtliche Beschwerde<br />

der Initianten hin hat nun aber das Bundesgericht diesen Entscheid aufgehoben,<br />

soweit es um indirekte Wahlen und um die Listenquote bei Proporzwahlen geht.<br />

Die öffentliche Beratung des Urteils in Lausanne zeichnete sich über weite Teile ebenso<br />

durch ihren hohen juristischen Gehalt wie durch spontane intellektuelle Auseinandersetzung<br />

aus. Wenn die Debatte zum Schluss beinahe zu entgleisen drohte, war dies wohl in erster Linie<br />

auf geistige und körperliche Ermüdung zurückzuführen, wurde doch während über vier<br />

Stunden nicht eine einzige Pause eingeschaltet. Dazu kam, dass der siebenköpfigen Kammer<br />

zeitweise fünf verschiedene Anträge vorlagen, die von einer vollständigen Abweisung der<br />

staatsrechtlichen Beschwerde bis zu deren ebenso vorbehaltloser Gutheissung reichten. Dabei<br />

stand im Hintergrund der Diskussion stets der vor anderthalb Jahren von der gleichen<br />

Abteilung in gleicher personeller Zusammensetzung gefällte Entscheid zur Quotenregelung<br />

im Kanton Solothurn, über dessen Tragweite und Konsequenzen sich die Geister schieden<br />

(BGE 123 I 153). Die schliesslich angenommene und vom Referenten von allem Anfang an<br />

vorgeschlagene Lösung dürfte die im erwähnten «Solothurner Urteil» erfolgte Absage an jede<br />

Quotenregelung bei Volkswahlen differenziert umsetzen, ohne die vor kurzem erst publizierte<br />

Rechtsprechung im Kern in Frage zu stellen.<br />

Die allgemeine Quotenregelung von mindestens einem Drittel für Wahlen in Kommissionen<br />

und Behörden ausserhalb des Parlaments wird vom Bundesgericht beanstandet, soweit es um<br />

direkte Volkswahlen geht. Hier würde die vorgeschriebene Ergebnisquote zu einer unzulässi-<br />

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