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Grundrechte - Marcel Küchler

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Prof. Dr. Walter Kälin SS 1998<br />

4., überarbeitete Version 2001 <strong>Grundrechte</strong><br />

später bestätigt, nachdem der freidenkende Primarlehrer Guido Bernasconi die Kruzifixe vor<br />

Aufnahme des Unterrichts wieder aus den Zimmern entfernt hatte. Bernasconi wehrte sich<br />

dagegen beim Staatsrat, welcher die Beschwerde mit folgender Begründung abwies:<br />

„Das Kruzifix ist nicht als ein irgendwelche Nichtgläubige herausforderndes oder<br />

diskriminierendes Zeichen aufzufassen, sondern (...) als Ausdruck einer Gesellschaft,<br />

die auf Grundsätzen beruht, die der christlichen Lehre zugehören. In dieser<br />

Hinsicht besteht keinerlei Diskrimination oder Ungleichbehandlung.“<br />

Gegeneinander abzuwägen sind die Interessen des Lehrers, die Interessen der Kinder (bzw.<br />

das religiöse Erziehungsrecht der Eltern) und die staatliche Neutralität in religiösen Angelegenheiten.<br />

Konfessionelle Neutralität des Staates bedeutet, dass der Staat weder Förderung noch Unterdrückung<br />

von Religionen betreiben soll. Er darf sich demnach nicht mit einer bestimmten<br />

Religion identifizieren, auch wenn sie ihm nahe verbunden ist (z.B. ein traditionell katholischer<br />

Staat oder Kanton).<br />

Das Kruzifix vermittelt eine direkte Botschaft, wodurch sich Angehörige (hier der Lehrer<br />

oder die Kinder bzw. deren Eltern) einer andern Religion verletzt fühlen könnten, weshalb<br />

das BGer zum Schluss kommt, dass das Anbringen solcher Kruzifixe gegen die Religionsfreiheit<br />

und insbesondere auch gegen den Art. 15 IV [27 III] BV verstösst.<br />

Die Kritik an diesem Urteil des BGer bezieht sich auf die Beurteilung des Kruzifixes als religiöses<br />

Symbol. Dieses sei vielmehr ein kulturelles Symbol, das die kulturelle Identität einer<br />

Region repräsentiere (wie z.B. die Bergkreuze). Diese kulturelle Identität könne nicht wegen<br />

einzelner Personen aufgegeben werden, da sonst die Gesellschaft zu zerfallen drohe.<br />

Diese Kritik verkennt jedoch, dass <strong>Grundrechte</strong> (hier die Religionsfreiheit) gerade den<br />

Schutz von Minderheiten bezwecken und nicht den Schutz der Mehrheitsmeinung oder Mehrheitsreligion.<br />

Ausserdem ist von der Tatsache der Pluralität der Gesellschaft auszugehen, eine<br />

einheitliche kulturelle Identität ist eine Fiktion und in der Realität nicht vorhanden.<br />

(Wohin die Idee einer einheitlichen kulturellen Identität im Extremfall führen kann: vgl. z.B.<br />

das Dritte Reich, Bosnien, Kosovo.)<br />

BGE 123 I 296 (Kopftuch)<br />

Frau X ist Lehrerin an einer Primarschule in Genf. Vor fünf Jahren trat sie vom Katholizismus<br />

zum Islam über. Seither trägt sie während des Unterrichts ein Kopftuch, weil es ihres<br />

Erachtens der Koran so verlangt.<br />

Die Erziehungsdirektion des Kantons Genf weist Frau X an, im Schulzimmer das Kopftuch<br />

abzulegen. Ihre Beschwerde dagegen wird vom Staatsrat des Kantons Genf abgewiesen.<br />

Frau X erhebt gegen diese Verfügung staatsrechtliche Beschwerde.<br />

Um die konfessionelle Neutralität der Schule (Art. 27 III aBV) zu garantieren, bestehen in<br />

Genf gesetzliche Grundlagen. Die Frage ist, ob die Religionsfreiheit der Lehrerin (d.h. das<br />

Tragen eines starken religiösen Symbols) aufgrund eines öffentlichen Interesses eingeschränkt<br />

werden kann (wiederum Art. 27 III aBV).<br />

Das BGer erklärte ausdrücklich, es sei nicht Sache des Gerichts, theologische Streitigkeiten<br />

(ob die Pflicht zum Tragen des Kopftuches bestehe oder nicht) zu entscheiden. Es habe nur zu<br />

klären, ob die behauptete Auffassung, der Islam verpflichte die Frauen zum Tragen eines<br />

Kopftuches, tatsächlich gelebt wird.<br />

Das BGer entschied, das öffentliche Interesse an der konfessionellen Neutralität der Schule<br />

sei gross genug, um der Lehrerin das Tragen des Kopftuches zu untersagen.<br />

Grundrechtsfälle betreffen normalerweise nur das Verhältnis zwischen einem einzelnen Individuum,<br />

dessen Grundrecht eingeschränkt wird, und dem Staat. In speziellen Fällen – wie<br />

dem vorliegenden – sind zusätzlich die <strong>Grundrechte</strong> Dritter, d.h. in diesem Fall, die Religionsfreiheit<br />

der Kinder bzw. das religiöse Erziehungsrecht der Eltern zu berücksichtigen<br />

(multipolarer Konflikt).<br />

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