Grundrechte - Marcel Küchler
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Prof. Dr. Walter Kälin SS 1998<br />
4., überarbeitete Version 2001 <strong>Grundrechte</strong><br />
Ein Problem könnte allenfalls die Vorverurteilung des A durch das Fernsehen darstellen; es<br />
wurde aber in der Sendung betont, dass A nur Bezugsperson und nicht als Täter verdächtig<br />
sei.<br />
Soering (EGMR-Urteil vom 7. Juli 1989, publiziert in EuGRZ 1989, S. 314 ff.)<br />
a) Im Jahre 1985 tötete der damals achtzehnjährige Deutsche Jens Soering im US-Staat Virginia<br />
die Eltern seiner Freundin Elizabeth Haysom durch unzählige Messerstiche. Soering<br />
hatte die Tat mit seiner Freundin geplant; Tatmotiv war der Widerstand der Eltern gegen die<br />
Liebesbeziehung der Jugendlichen. Der Staat Virginia erhob gegen Soering Anklage wegen<br />
Doppelmordes, gegen Elizabeth Haysom wegen Beihilfe zum Mord.<br />
b) Jens Soering und Elizabeth Haysom konnten nach England flüchten, wo sie kurz später<br />
wegen Scheckbetrugs verhaftet wurden.<br />
c) In der Folge stellte die US-Regierung ein Auslieferungsgesuch an die englische Regierung.<br />
England gab diesem Begehren bezüglich Elizabeth Haysom statt; in Virginia wurde sie zu 90<br />
Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Auslieferung von Jens Soering machte die englische Regierung<br />
von einer Zusicherung abhängig, dass ein allfälliges Todesurteil gegen Soering nicht<br />
vollstreckt würde; für den Fall, dass eine solche Zusicherung verfassungsrechtlich problematisch<br />
sein sollte, verlangte England eine entsprechende Empfehlung an die zuständigen Behörden.<br />
d) Der in Virginia zuständige Staatsanwalt James Updike erklärte in einer eidesstattlichen<br />
Versicherung, dass im Falle einer Verurteilung Soerings wegen Mordes der Richter durch eine<br />
Empfehlung von den Wünschen der englischen Regierung informiert werde. Im Laufe des<br />
Verfahrens fasste Updike jedoch den Entschluss, auf Todesstrafe zu plädieren.<br />
e) Inzwischen wurde Jens Soering auch von einem deutschen Staatsanwalt vernommen, worauf<br />
das Amtsgericht Bonn einen Haftbefehl gegen Soering erliess. Die deutsche Regierung<br />
verlangte nun ihrerseits die Auslieferung Soerings nach Deutschland.<br />
f) Soering legte nun Beschwerde bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte ein.<br />
Er befürchtete, bei einer Auslieferung in die USA zum Tode verurteilt zu werden. Das „Todeszellensyndrom“<br />
würde ihn unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Bestrafung<br />
aussetzen. Es sei bekannt, dass extremer Stress, psychischer Verfall, homosexueller<br />
Missbrauch und physische Angriffe durch Mithäftlinge in den Todeszellen die Folgen dieser<br />
Haft seien. Im Falle einer Auslieferung an die USA verletze die englische Regierung somit<br />
Art. 3 EMRK. Verschiedene psychiatrische Gutachten bestätigten die Ängste Soerings vor<br />
der bevorstehenden Todeszelle; sie diagnostizierten eine wachsende Verzweiflung und<br />
Selbstmordgefahr Soerings.<br />
g) Kurz später ordnete der britische Innenminister die Auslieferung Soerings an die USA an.<br />
Die Europäische Kommission für Menschenrechte ordnete gegenüber der englischen Regierung<br />
die vorläufige Massnahme an, Soering bis zum Abschluss des Verfahrens vor den<br />
Strassburger Organen nicht auszuliefern.<br />
Zusatzinformationen zur Rechtslage und den tatsächlichen Verhältnissen im US Staat Virginia:<br />
Gemäss dem anwendbaren Code of Virginia wird „die vorsätzliche, überlegte und geplante Tötung<br />
mehr als eines Menschen durch eine Tathandlung (...) mit Todesstrafe oder lebenslanger Freiheitsstrafe“<br />
geahndet. Die Todesstrafe darf nur im Falle „zukünftiger Gefährlichkeit“ oder „Grausamkeit“ verhängt<br />
werden.<br />
Im Zeitraum zwischen 1977 und 1989 wurden in Virginia sieben Menschen auf dem elektrischen Stuhl<br />
hingerichtet. Die Zeitspanne zwischen Strafverfahren und der Vollstreckung eines Todesurteils in Virginia<br />
liegt bei durschnittlich sechs bis acht Jahren.<br />
Die Haftbedingungen des „Mecklenburg Correctional Center“ (Hochsicherheitsgefängnis des Staates<br />
Virginia) sehen gesetzlich vor, dass Todeszellen-Insassen jeden Morgen eine Stunde gemeinsamen<br />
Ausgang haben. Ansonsten dürfen sie ihre Zellen für den Empfang von Besuchen (samstags oder sonntags),<br />
die Benutzung der Rechtsbibliothek oder den Besuch der Krankenstation verlassen. Die Fortbewegung<br />
im Gefängnis ist nur in Handschellen zugelassen. Gehen Häftlinge aufeinander los, dürfen die<br />
ausserhalb in Schutzboxen stehenden Wachen erst auf Weisung des Vorgesetzten eingreifen. Fünfzehn<br />
Tage vor der Exekution wird der Verurteilte in den Todestrakt überstellt, der sich neben der Todes-<br />
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