Zeitschrift für Archivwesen - Archive in Nordrhein-Westfalen
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SPECIALIA<br />
a) Zur Methode<br />
Um diese etwas allgeme<strong>in</strong> gehaltenen Beschreibungen etwas zu<br />
konkretisieren, möchte ich hier die Vorgehensweise bei der Abfassung<br />
e<strong>in</strong>es bestimmten Inventars erläutern, das ich selbst maßgeblich<br />
bearbeitet habe, nämlich des Inventars „Literarisches Leben<br />
am Rhe<strong>in</strong>. Quellen zur literarischen Infrastruktur 1830-1945“ 1 .<br />
Das Projekt startete im September 2005, gefördert vom Landschaftsverband<br />
Rhe<strong>in</strong>land. Um das Material überschaubar zu<br />
halten, wurde die Untersuchung <strong>in</strong>haltlich auf den Aspekt<br />
„öffentliche Darstellungsformen von Literatur“ e<strong>in</strong>geschränkt,<br />
also Lesungen, Vorträge, aber auch Radiopräsentationen von<br />
Literatur. Der Zeitraum wurde von 1830 bis 1945 term<strong>in</strong>iert, da<br />
so die literaturwissenschaftlich noch nicht abschließend erforschte<br />
Zeit des Nationalsozialismus mit e<strong>in</strong>begriffen wurde, die<br />
Zeit nach 1945 jedoch, die aufgrund der geänderten Medien- und<br />
Überlieferungssituation sowie des schwunghaften Anstiegs des<br />
kulturellen Lebens e<strong>in</strong>e regelrechte „Quellenexplosion“ hervorgebracht<br />
hat, blieb ausgespart.<br />
Das Vorgehen war zweigleisig angelegt, empirisch und theoretisch:<br />
1. wurde e<strong>in</strong>e flächendeckende Anfrage bei rund 150 <strong>Archive</strong>n<br />
gestartet.<br />
2. wurde diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e literaturwissenschaftliche Methodenrecherche<br />
e<strong>in</strong>gebettet.<br />
Die Anfrage war, da wir noch nicht wirklich zielgenau e<strong>in</strong>schätzen<br />
konnten, wo sich die relevanten Materialien bef<strong>in</strong>den würden,<br />
relativ global ausgerichtet. Wir fragten nach Daten über<br />
kulturelle Zusammenschlüsse, bürgerliche Vere<strong>in</strong>igungen, Arbeiterkulturvere<strong>in</strong>e,<br />
Leser<strong>in</strong>ge. Außerdem wollten wir wissen, ob es<br />
ggf. Nachlässe von wohl situierten Bürgern oder Unternehmern<br />
gebe, die zum Beispiel private Soiréen mit Lesungen u. ä. veranstalteten.<br />
Auch Unterlagen über die Entstehung ortsansässiger<br />
Bibliotheken und Buchhandlungen waren <strong>für</strong> uns <strong>in</strong>teressant, da<br />
wir diese als potenzielle Veranstalter von Lesungen e<strong>in</strong>schätzten<br />
und uns davon zudem Aufschlüsse über die Lesepraktiken der<br />
Bevölkerung versprachen.<br />
Die e<strong>in</strong>laufenden Ergebnisse waren allerd<strong>in</strong>gs nur teilweise<br />
befriedigend, was uns <strong>in</strong> der Überzeugung bestärkte, dass unsere<br />
Anfrage zu allgeme<strong>in</strong> gehalten war, um wirklich die Detail<strong>in</strong>formationen<br />
hervorzubr<strong>in</strong>gen, auf die wir abzielten. Was die <strong>Archive</strong><br />
meldeten, war sehr punktuell und heterogen, sowohl was die<br />
Laufzeiten ang<strong>in</strong>g als auch die Informationen selbst: Rückschlüsse<br />
auf öffentliche Veranstaltungen gab es nahezu ke<strong>in</strong>e, zumeist<br />
betrafen die Angaben das Bibliothekswesen sowie E<strong>in</strong>zelpersonen<br />
oder Vere<strong>in</strong>igungen, die sich <strong>in</strong> weitestem S<strong>in</strong>ne literarisch<br />
betätigten. Alles <strong>in</strong> allem ergab sich hier e<strong>in</strong> ausgesprochen<br />
disparates und diskont<strong>in</strong>uierliches Bild.<br />
Dieses Anfrageresultat war jedoch ke<strong>in</strong> Zufall, deckte es sich<br />
doch mit den Ergebnissen der literaturwissenschaftlichen Studie.<br />
Hier verfolgten wir zunächst e<strong>in</strong>e komparatistische L<strong>in</strong>ie, <strong>in</strong>dem<br />
e<strong>in</strong> Strukturvergleich mit Literaturgeschichten anderer Städte<br />
und Regionen gezogen wurde. Schnell wurde dabei klar, dass die<br />
<strong>in</strong>haltliche Zuspitzung auf öffentliche Vermittlungsformen von<br />
Literatur thematisch und quellenkundlich gesehen e<strong>in</strong>e zu starke<br />
Verengung bedeutete, da es schlichtweg nicht möglich ist, die<br />
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e<strong>in</strong>zelnen literarischen Aktivitätsbereiche ause<strong>in</strong>ander zu dividieren.<br />
Aspekte wie Buchhandel, Bibliotheken, literarische Gruppierungen,<br />
Lesegesellschaften, Vortragswesen, <strong>Zeitschrift</strong>en etc.<br />
hängen, schon was die handelnden Personen angeht, untrennbar<br />
mite<strong>in</strong>ander zusammen. In dieser riesigen Datenmenge verlieren<br />
und verästeln sich die m<strong>in</strong>imalen Detail<strong>in</strong>formationen zu Lesungen<br />
u. ä. notwendigerweise. Es wurde klar, dass es bei solchen<br />
Ansätzen um e<strong>in</strong> ganzes literarisches „Betriebssystem” gehen<br />
muss. Literarisches Leben wäre demnach zu verstehen als e<strong>in</strong><br />
Netzwerk verschiedenartigster Diskurs-, Äußerungs- und Handlungsformen,<br />
das sich vornehmlich auf die Sphären der Produktion,<br />
Distribution und Rezeption von Literatur erstreckt;<br />
das bezeichnet – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deutlich erweiterten S<strong>in</strong>ne – das, was<br />
Pierre Bourdieu „literarisches Feld“ 2 nennt. Denn es ist mehr als<br />
nur e<strong>in</strong> literarisches Feld, um das es hier geht. Vielmehr handelt<br />
es sich um e<strong>in</strong>en übergreifenden Kommunikationsbegriff, bei<br />
dem Literatur als Vehikel zugrundeliegender (ökonomischer,<br />
symbolischer oder funktionaler) Interessen dient.<br />
Aus diesem Grund ist hier im Untertitel von literarischer Infrastruktur<br />
die Rede: diese bezeichnet den ökonomisch-materiellen<br />
Komplex, auf dem das literarische Leben als kommunikatives<br />
System basiert. Anders formuliert: Das literarische Leben ist<br />
Effekt der kulturwirtschaftlichen Produktivkräfte. Das schlägt<br />
sich pr<strong>in</strong>zipiell <strong>in</strong> historisch variablen Ausprägungen bestimmter<br />
Produktions-, Vertriebs- und Vermittlungstypen nieder (bisweilen<br />
auch bloß <strong>in</strong> deren schierer Existenz) – Buch- und <strong>Zeitschrift</strong>verlagen,<br />
dem Buchhandel, den Leih-, Volks-, Stadt- oder<br />
Borromäusbibliotheken, Veranstaltungsorten und Veranstaltern<br />
(seien es E<strong>in</strong>zel-Personen oder Vere<strong>in</strong>e, etwa Lesegesellschaften),<br />
all das, was – re<strong>in</strong> ökonomisch und strukturgeschichtlich betrachtet<br />
– die Entwicklung der Literaturwirtschaft umreißt. Die<br />
Themenpalette umfasst die Erforschung des Lesepublikums,<br />
Analysen des Verlags- und Bibliothekswesens, sie reicht von<br />
empirischen Untersuchungen des literarischen Marktes bis h<strong>in</strong><br />
zu Rekonstruktionsversuchen, die soziale Herkunft, Lebens- und<br />
Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen von Autor<strong>in</strong>nen und Autoren zu dokumentieren<br />
suchen.<br />
Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund wird klar, wie vielgestaltig die Quellen<br />
se<strong>in</strong> können. An privaten Nachlässen etwa können solche von<br />
Literaturveranstaltern, Multiplikatoren oder ganz allgeme<strong>in</strong>:<br />
Gestalten des öffentlichen Kulturlebens <strong>in</strong> Frage kommen, unter<br />
Umständen aber auch von normalen Bürgern, die auf diesem<br />
Gebiet <strong>in</strong>teressiert waren und Sammlungen angelegt haben.<br />
Ebenso spielen Materialien und Überlieferungen aus dem Bereich<br />
der Wirtschaft, der Verwaltung, der Politik mit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />
Der Neuansatz der Recherche bezog nun folgerichtig Schriften<br />
aus dem Gebiet der Bürgertumsforschung, der Stadt- und Vere<strong>in</strong>sgeschichte<br />
mit e<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong> Geflecht ökonomischer und<br />
politischer Interdependenzen im Rhe<strong>in</strong>land oder auch <strong>in</strong>nerhalb<br />
e<strong>in</strong>zelner rhe<strong>in</strong>ischer Städte zu konturieren.<br />
1 Enno Stahl (Bearb.): Literarisches Leben am Rhe<strong>in</strong>. Quellen zur literarischen<br />
Infrastruktur 1830-1945. E<strong>in</strong> Inventar. Bd. 1: Staatliche <strong>Archive</strong>, Düsseldorf<br />
2008; Bd. 2: Kreis-, Kommunal- und Kirchenarchive sowie sonstige Institutionen,<br />
Düsseldorf 2008; Bd. 3: Kommentar und Register (Register bearbeitet von<br />
Kirsten Adamek, Wolfgang Delseit und Ralf Drost), Düsseldorf 2008.<br />
2 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen<br />
Feldes. Suhrkamp: Frankfurt/M. 2001, S. 15 (ursprüngl. Frankfurt/M. 1999).<br />
ARCHIVAR 62. Jahrgang Heft 04 November 2009