Zeitschrift für Archivwesen - Archive in Nordrhein-Westfalen
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ARCHIVAR 62. Jahrgang Heft 04 November 2009<br />
ARCHIVTHEORIE<br />
UND PRAXIS<br />
Typische Schäden an e<strong>in</strong>er Handschrift: Innerhalb des Buchblocks f<strong>in</strong>den<br />
sich durch Erdreich stark verschmutzte Bereiche. (Foto: Rebecka Thalmann/Historisches<br />
Archiv der Stadt Köln)<br />
KATASTROPHENMANAGEMENT<br />
Bilanz zu ziehen ist auch h<strong>in</strong>sichtlich der Frage, wie sich die<br />
Verfahren und Methoden von Bergung und Erstversorgung<br />
bewährt haben und welche Lehren <strong>für</strong> künftige Katastrophenfälle<br />
zu ziehen s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e abschließende Beurteilung dieser Fragen<br />
ist zwar derzeit noch nicht möglich. Sicher wird man neben<br />
Erfolgen auch Fehlentscheidungen zu analysieren haben. E<strong>in</strong>ige<br />
Lehren können jedoch bereits jetzt formuliert werden. Dazu<br />
gehört die Erkenntnis, dass Katastrophen- und Notfallpläne nicht<br />
allzu sehr <strong>in</strong>s Detail gehen und nicht zu komplex, alle Eventualitäten<br />
berücksichtigend se<strong>in</strong> dürfen, wenn sie funktionieren<br />
sollen. Schon das Wort trifft nicht den Kern der Sache, denn e<strong>in</strong>e<br />
Katastrophe ist nicht planbar. Ke<strong>in</strong> noch so gut erdachter Plan<br />
kann den ersten Kontakt mit der Realität ohne Modifikationen<br />
überleben. Der Akzent der Vorbereitung sollte daher vor allem<br />
auf Notfallprävention, Vorbereitung von flexiblen Führungsstrukturen,<br />
Ausbildung und Übungen denn auf konkreten Maßnahmen<br />
liegen, damit im Fall der Fälle möglichst viele Mitarbeiter<strong>in</strong>nen<br />
und Mitarbeiter, aber auch Feuerwehr und Hilfsdienste, <strong>in</strong><br />
der Lage s<strong>in</strong>d, flexibel sachgerechte und der jeweiligen aktuellen<br />
Lage angepasste Entscheidungen zu treffen.<br />
E<strong>in</strong> Beispiel aus der frühen Phase der Bergung vermag dies zu<br />
illustrieren. Dieses hat über den E<strong>in</strong>zelfall Köln h<strong>in</strong>aus Bedeutung,<br />
weil es sich um e<strong>in</strong>e Lage handelte, die so ähnlich auch<br />
andernorts anzutreffen se<strong>in</strong> könnte, ohne dass gleich e<strong>in</strong> Gebäude<br />
zusammengestürzt se<strong>in</strong> muss: Hierbei handelt es sich um die<br />
Sicherung der Urkunden aus dem Keller des stehengebliebenen<br />
Gebäudeteils, die während der ersten Nacht und zu Beg<strong>in</strong>n des<br />
zweiten Tages erfolgte. Vom Ergebnis her ist hier zu beklagen,<br />
dass die betreffenden Urkunden nunmehr zwar gesichert s<strong>in</strong>d,<br />
jedoch <strong>in</strong> ziemlicher Unordnung. Dadurch ist e<strong>in</strong> erheblicher<br />
Sortieraufwand entstanden. Die Schlussfolgerung, man hätte<br />
diese Unordnung durch den Bau provisorischer Gestelle <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Hängung <strong>in</strong> Signaturenreihenfolge vermeiden können, ist daher<br />
isoliert betrachtet richtig. Nichts wäre jedoch <strong>in</strong> der konkreten<br />
Situation falscher gewesen, als im H<strong>in</strong>blick auf spätere Ordnungsaufwände<br />
die Bergung auch nur <strong>für</strong> kurze Zeit zu verzögern:<br />
Zunächst e<strong>in</strong>mal standen die Maßnahmen unmittelbar nach dem<br />
E<strong>in</strong>sturz unter erheblichem Zeitdruck, da die Feuerwehr so rasch<br />
wie möglich die stehengebliebenen Gebäudeteile e<strong>in</strong>reißen<br />
musste, um schweres Gerät bei der Suche nach den vermissten<br />
Personen e<strong>in</strong>setzen zu können. Es war daher zu Beg<strong>in</strong>n nicht<br />
e<strong>in</strong>mal sicher, ob alle Urkunden würden evakuiert werden<br />
können. Mehrfach mussten die Räumungsarbeiten unterbrochen<br />
werden, weil e<strong>in</strong> Abrutschen der Keller <strong>in</strong> den Trichter be<strong>für</strong>chtet<br />
wurde. Dank des zügigen Beg<strong>in</strong>ns konnte bis zum Start der<br />
Abrissarbeiten fast alles Archivgut aus den Kellern geborgen<br />
werden. Jede Verzögerung am Anfang wäre angesichts der unklaren<br />
Gesamtlage fahrlässig gewesen – <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e mögliche Bergung<br />
der Personen und <strong>für</strong> die Sicherung unersetzlichen Archivgutes.<br />
Doch die Diskussion dieser Frage ist ohneh<strong>in</strong> müßig, denn<br />
Forderungen der Archivare s<strong>in</strong>d <strong>für</strong> die E<strong>in</strong>satzleitung der Feuerwehr<br />
alles andere als b<strong>in</strong>dend. Diese konzentriert sich aus guten<br />
Gründen auf die unmittelbare Gefahrenabwehr, nicht auf die<br />
Folgemaßnahmen. Das gilt grundsätzlich, aber natürlich auch <strong>für</strong><br />
die Durchführung der eigentlichen Bergung: Wer die – auch<br />
freiwilligen – E<strong>in</strong>satzkräfte der Feuerwehr beobachtet hat, die<br />
unter hohem E<strong>in</strong>satz bis an den Rand der Erschöpfung Archivgut<br />
aus den Kellern schleppten, der würde niemals die Forderung an<br />
diese richten wie bei e<strong>in</strong>em normalen Archivumzug zu arbeiten –<br />
im Stil bezahlter Möbelpacker. Dieses hätte ihre Kräfte mehr als<br />
unmittelbar notwendig beansprucht, zudem hätte man mit e<strong>in</strong>er<br />
solchen Forderung bei der E<strong>in</strong>satzleitung auch ke<strong>in</strong> Gehör<br />
gefunden.<br />
Das Beispiel der Urkunden ist nur e<strong>in</strong>es von vielen, die immer<br />
wieder unterstreichen, dass die Katastrophe und der wirkliche<br />
Notfall zur Sphäre des Improvisierens gehören; sie verlangen e<strong>in</strong><br />
ständiges lagebed<strong>in</strong>gtes Neuorganisieren und liegen weitab von<br />
jeglicher systematischer Planbarkeit. Die Notfallmaßnahmen<br />
standen so lange, wie Schäden von Archivgut durch rasches<br />
Handeln abzuwenden waren, unter der Prämisse der ständigen<br />
lagebed<strong>in</strong>gten Anpassung und Änderung der Vorgehensweise.<br />
Das bedeutet <strong>in</strong> unserem konkreten Fall: bis Ende August war<br />
das letzte Stück so erstversorgt, dass die Schimmelgefahr durch<br />
Restfeuchtigkeit abgewendet wurde. Im Rahmen der Erstversorgung<br />
zu berücksichtigende Faktoren waren daher Menge, Schädigungs-<br />
und Feuchtigkeitsgrad der aktuell zu bearbeitenden<br />
Archivalien, aber auch die jeweils verfügbaren Personalkapazitäten<br />
<strong>in</strong> quantitativer und qualitativer H<strong>in</strong>sicht. So liegt die Idee,<br />
Kompetenzteams von Restauratoren e<strong>in</strong>zusetzen, die sich gezielt<br />
z. B. um AV-Material kümmern, zwar nahe, konnte aber mangels<br />
entsprechender Fotorestauratoren nur selten umgesetzt werden.<br />
Es stand daher jeden Tag und <strong>in</strong> jeder Schicht erneut die Entscheidung<br />
darüber an, ob und welche besonderen Arbeiten an<br />
z. B. AV-Material, mittelalterlichen Urkunden oder Großformaten