Zeitschrift für Archivwesen - Archive in Nordrhein-Westfalen
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ARCHIVAR 62. Jahrgang Heft 04 November 2009<br />
LITERATURBERICHTE<br />
unangekündigt auftauchendes Monogramm e<strong>in</strong>en Fälschungsverdacht<br />
begründen würde. Das Stück ist kanzleikonform.<br />
Die Auflockerung des dichten Textes durch die genannten Abbildungsseiten,<br />
auf denen die Urkundentypen mit ihren wichtigsten<br />
äußeren Merkmalen behandelt werden, ist didaktisch gelungen.<br />
Weniger gelungen ist, dass bei den Abbildungen und <strong>in</strong> der ersten<br />
Buchhälfte das Fachvokabular der Urkundenbestandteile Verwendung<br />
f<strong>in</strong>det, <strong>in</strong> das erst <strong>in</strong> der zweiten Hälfte des Buches systematisch<br />
e<strong>in</strong>geführt wird (Kapitel 6.1/6.3). Manche Fachterm<strong>in</strong>i wie<br />
„Petent“, „Impetrant“ oder „Intervenient“ (S. 37) werden zwar benutzt,<br />
aber gar nicht näher erläutert. Andere Phänomene wie die<br />
Beglaubigungsform des Chirograph (carta partita/Zerter) oder<br />
die Verb<strong>in</strong>dung zweier <strong>in</strong>haltlich aufe<strong>in</strong>ander bezogener Urkunden<br />
an den Presseln als sogenanntes Transfix werden überhaupt nicht<br />
thematisiert. E<strong>in</strong> weiteres Manko entspricht dem der diplomatischen<br />
Forschung allgeme<strong>in</strong>: Sie verkürzt die Urkundenlehre auf<br />
die früh- und hochmittelalterlichen Urkunden und blendet die<br />
spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Entwicklungen aus und<br />
verweist auf die dom<strong>in</strong>ierende Aktenüberlieferung. Der Quellentyp<br />
Urkunde bleibt aber bis zum Ende des Alten Reichs und darüber<br />
h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> Gebrauch, um bestimmten Rechtsgeschäften e<strong>in</strong>e<br />
besondere Form zu geben und Beweiskraft zu verleihen. Mit der<br />
Libellform reagierten die Kanzleien auf das Bedürfnis, Rechts<strong>in</strong>halte<br />
<strong>in</strong> Urkundenform zu br<strong>in</strong>gen, die nicht „auf e<strong>in</strong>e Kuhhaut“<br />
g<strong>in</strong>gen (z. B. im Bereich der Königskanzlei bei Standeserhöhungen<br />
oder bei umfänglichen Verträgen). Urkunden wurden früh zu<br />
Massenschriftgut, bei dem die festgefügten Formularteile als Vordruck<br />
vorlagen, und nur noch Namen und bestimmte dispositive<br />
Teile handschriftlich ergänzt wurden (Ablass-, Offizialats- und<br />
Lehnsurkunden). Re<strong>in</strong> mengenmäßig nahm die Urkundenproduktion<br />
– wenn auch nicht im Umfang der Aktenüberlieferung – bis<br />
<strong>in</strong> die jüngste Vergangenheit zu; Urkunden s<strong>in</strong>d also e<strong>in</strong> „lebender“,<br />
sich entwickelnder Zweig der Überlieferung, der gerade vor dem<br />
H<strong>in</strong>tergrund mehr Aufmerksamkeit verdient, dass die Geschichtsforschung<br />
sich <strong>in</strong> stärkerem Maße mit dem Spätmittelalter und<br />
der frühen Neuzeit beschäftigt.<br />
Die „Urkundenlehre“ geht schließlich nicht auf die Frage e<strong>in</strong>, wie<br />
Urkunden <strong>in</strong> die <strong>Archive</strong> gelangt s<strong>in</strong>d, nach welchen Kriterien sie<br />
dort geordnet werden und mit welchen Suchstrategien sie e<strong>in</strong> Interessent<br />
dort f<strong>in</strong>den kann. Offen bleibt auch, was e<strong>in</strong> Regest und<br />
was e<strong>in</strong>e Edition ist und welche Informationen man dar<strong>in</strong> erwarten<br />
kann (und welche nicht).<br />
E<strong>in</strong> an manchen Stellen etwas ausführlicherer Text und e<strong>in</strong> Glossar<br />
der Fachbegriffe würden dieser E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Diplomatik gut<br />
tun und sie zu e<strong>in</strong>er wertvollen und handlichen Hilfe <strong>für</strong> Studenten<br />
und <strong>für</strong> die Benutzer von Urkundenbeständen <strong>in</strong> den <strong>Archive</strong>n<br />
machen.<br />
Peter Worm, Münster<br />
WHAT ARE ARCHIVES?<br />
Cultural and Theoretical Perspectives: A Reader. Edited<br />
by Louise Craven. Ashgate Publish<strong>in</strong>g, Aldershot 2008.<br />
XVII, 196 S., geb. 60,- £. ISBN 978-0-7546-7310-1<br />
Der anzuzeigende Band ist weniger e<strong>in</strong> Reader als vielmehr Ergebnis<br />
e<strong>in</strong>er Konferenz der britischen Society of Archivist im Jahr<br />
2006. Vorausgegangen waren auf der Insel <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Konferenzen<br />
über „The Philosophy of the <strong>Archive</strong>“ und „The Ontology<br />
of the <strong>Archive</strong>s“, <strong>in</strong> denen aus der Außenperspektive große<br />
<strong>in</strong>tellektuelle Aktivität auf die <strong>Archive</strong> verwandt wurde. Die<br />
britischen Archivar<strong>in</strong>nen und Archivare sahen sich herausgefordert<br />
und nutzten die Gelegenheit zur Standortbestimmung ihrer<br />
Profession. E<strong>in</strong>e Leitfrage war: In welchem Maße können und<br />
müssen <strong>Archive</strong> aus der Historizität und Rückwärtsgewandtheit<br />
ihres Handels ausbrechen und nach vorne schauen? Die Herausgeber<strong>in</strong>,<br />
und nicht nur sie, befand: „The time is right for debate<br />
and discussion and the realization that a new set of answers to<br />
the question ‚What are archives?’ is beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>g to emerge” (S. XVI).<br />
Wie sehen die Antworten aus? Die Herausgeber<strong>in</strong> sieht sich durch<br />
die von Foucault und Derrida <strong>in</strong>spirierten Überlegungen aufgefordert,<br />
e<strong>in</strong> Forum zum <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Austausch zu schaffen.<br />
Weiter fordert sie, größeres Wissen über die anderen Gedächtnis<strong>in</strong>stitutionen<br />
zu erwerben. Noch größer s<strong>in</strong>d die Herausforderungen<br />
durch elektronische Unterlagen und die erfolgreiche E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />
der <strong>Archive</strong> <strong>in</strong> die Medien. Sie verweist auf den Publikumserfolg<br />
„Who Do Th<strong>in</strong>k You Are?“ Andrew Prescott setzt sich mit der<br />
„Textualität“ der <strong>Archive</strong> ause<strong>in</strong>ander. Das Angebot „Your <strong>Archive</strong>“<br />
des Nationalarchivs lade im S<strong>in</strong>ne von Barthes, Foucault und<br />
Derrida die Benutzer zur aktiven Mitwirkung an Erschließungsarbeiten<br />
e<strong>in</strong>. Er hält das <strong>für</strong> s<strong>in</strong>nvoll, denn <strong>Archive</strong> sollten nicht<br />
als bürokratische Mediatoren auftreten, sondern die Lust am Archiv<br />
fördern. Carol<strong>in</strong>e Williams stellt den <strong>Archive</strong>n, die aus offiziellen<br />
Organisationen erwachsen, privates Schriftgut („personal<br />
papers“) als wichtige Quelle gegenüber. Sie betont se<strong>in</strong>en Wert<br />
und sucht nach Lösungen <strong>für</strong> se<strong>in</strong>e Sicherung im digitalen Zeitalter.<br />
Michael Moss’ Beitrag steht unter dem Motto „Open<strong>in</strong>g<br />
Pandora’s Box“. Auch er fragt nach dem Standort der <strong>Archive</strong> <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er digitalen Umgebung. Er sieht ke<strong>in</strong>en grundlegenden Unterschied<br />
gegenüber dem analogen Zeitalter und verteidigt „das“<br />
Archiv gegen e<strong>in</strong> Zerfasern <strong>in</strong> Sammlungen. Dagegen propagiert<br />
Jane Stevenson offensiv den „Onl<strong>in</strong>e Archivist“. Sie nähert sich<br />
positiv dem Digitalzeitalter und warnt die <strong>Archive</strong> vor e<strong>in</strong>er<br />
Bunkerhaltung: „Archivists must avoid the danger of rema<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />
<strong>in</strong> silos where they are not play<strong>in</strong>g a full and active part <strong>in</strong> the<br />
evolv<strong>in</strong>g onl<strong>in</strong>e world“ (S. 105). Bemerkenswert ist ihre Aussage<br />
über die Konvergenz von <strong>Archive</strong>n, Bibliotheken und Museen im<br />
Onl<strong>in</strong>e-Zeitalter, von der die <strong>Archive</strong> nur profitieren könnten.<br />
Andrew Fl<strong>in</strong>n (über <strong>Archive</strong> von M<strong>in</strong>derheiten) und Andrew<br />
Prescott (über exilierte <strong>Archive</strong>) bleiben im konventionellen Rahmen,<br />
bevor Andrea Johnson zu e<strong>in</strong>em vehementen Plädoyer <strong>für</strong><br />
die Zusammenarbeit der Benutzer mit digitalen <strong>Archive</strong>n aufruft.<br />
Sie entwirft Leitl<strong>in</strong>ien, wie sich Besucher ohne Vorwissen durch<br />
Bestände bewegen können. Gerald P. Coll<strong>in</strong>s reflektiert etwas wirr<br />
über <strong>Archive</strong> zur militärischen und zivilen Nukleartechnik und deren<br />
künftige Nutzung. In der Gesamtheit aber ist der Band sehr<br />
lesenswert, weil er die aktuelle Theoriediskussion <strong>in</strong> Großbritannien<br />
widerspiegelt. Im Vergleich zu Deutschland ist größere Offenheit<br />
zu Foucault & Co. festzustellen. Über die Unausweichlichkeit,<br />
sich den Herausforderungen des digitalen Zeitalters zu stellen,<br />
wie über den dadurch bewirkten Paradigmenwechsel dürfte es<br />
ke<strong>in</strong>en Dissens geben, selbst wenn man die Wiki-Methoden, die<br />
A. Prescott empfiehlt, bei F<strong>in</strong>dbüchern nicht e<strong>in</strong>führen mag.<br />
Wilfried Re<strong>in</strong><strong>in</strong>ghaus, Düsseldorf