Handbuch Um.Welt - Klimawandel, Biodiversität und ... - VNB
Handbuch Um.Welt - Klimawandel, Biodiversität und ... - VNB
Handbuch Um.Welt - Klimawandel, Biodiversität und ... - VNB
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
44<br />
Das traditionelle Leben im Wald war jedoch ökonomisch <strong>und</strong> politisch für die sowjetische <strong>und</strong> dann<br />
russische Gesellschaft marginal. Die ökonomische Bedeutung der traditionellen Wirtschaftszweige<br />
sank mit dem Boom der Erdölindustrie. Gleichzeitig verschlechterte sich auch die Lage der<br />
indigenen Bevölkerung. Diese Entwicklung führte dazu, dass einige indigene Gemeinschaften<br />
sich in noch nicht erschlossene Gebiete zurückzogen <strong>und</strong> trotz verschlechterter Bedingungen von<br />
Rentierwirtschaft, Jagen <strong>und</strong> Fischfang lebten.<br />
Gesellschaftliche Bedeutung erlangten die Waldbewohner erst, als indigene Intellektuelle während<br />
der Perestroika ihre Verwandten im Wald als Verbündete bei ihren Bemühungen um kulturelle<br />
Wiederbelebung einbezogen. AktivistInnen auf föderaler wie regionaler Ebene setzen sich für diese<br />
Landbevölkerung ein <strong>und</strong> betonen deren katastrophale Lebensbedingungen. Sie unterscheiden<br />
zwischen der traditionellen Lebensweise <strong>und</strong> der diametral entgegengesetzten industriellen<br />
Zivilisation, die die traditionelle Lebensweise gefährdet. So wurde diese Gegenüberstellung im<br />
Russischen als „aborigen-technogen“ bezeichnet. Indigene Intellektuelle aus der urbanen Sphäre<br />
treten als VertreterInnen für die Interessen der noch „traditionell“ lebenden Bevölkerung ein. Die<br />
Gelder in den Städten sollten für deren Bedürfnisse investiert werden. Die Interessen der Wald- <strong>und</strong><br />
zum Teil der Dorfbewohner sind dabei vor allem, ihre ökonomische Lage zu verbessern <strong>und</strong> die<br />
konkrete Probleme, die die Rentierzucht, den Fischfang oder die Jagd behindern, zu bewältigen.<br />
2.3.1 Tradition vs. Moderne – Neotraditionalismus oder<br />
Neuerfindung von Tradition<br />
Für die Chanty <strong>und</strong> Mansi ist der Begriff Tradition zentral für ihr Leben, wenn auch bezogen auf die<br />
Moderne durchaus zwiespältig <strong>und</strong> konfliktbehaftet. Während sie einerseits davon ausgehen, dass<br />
Tradition unverändert bleibt <strong>und</strong> Veränderungen nur allmählich über lange Zeiträume übernommen<br />
werden, sprechen sie eher vom Begriff der „Neo-Tradition“. Aus ethnischer Perspektive wird „Neo-<br />
Tradition“ als generationenübergreifende soziale Praxis verstanden, die bewusst „traditionelle“ <strong>und</strong><br />
„moderne“ Merkmale kombiniert, heilige Stätten <strong>und</strong> Symbole respektiert <strong>und</strong> vom technologischen<br />
Fortschritt profitiert, um eine bestimmte Kultur zu entwickeln, während gleichzeitig deren ethnische<br />
„Einzigartigkeit“ erhalten wird.<br />
Tradition meint für junge Menschen eine Reihe von Praktiken mit symbolischer Bedeutung, wie<br />
Rituale, Verhaltensregeln, Kochkunst, Kleidung, Folklore usw., die von Indigenen, die in den Wäldern<br />
leben, in ihrer reinen Form gelebt <strong>und</strong> praktiziert werden. Ihrer Meinung nach versuchen sie durch<br />
die Sommercamps, indigene Traditionen so zu bewahren, wie sie „wirklich sind“, im Gegensatz zu<br />
Versuchen städtischer Folkloregruppen, welche indigene Symbole gleichgültig benutzen. „Tradition“<br />
hilft ihnen, so sagen sie, in ihrem Leben Prioritäten zu setzen, „lehrt sie zu leben“, gibt ihnen einen<br />
„inneren Kern“, „persönliche Orientierung“ <strong>und</strong> patriotische Gefühle, lässt sie stolz sein. 64<br />
In einem Interview beschreibt eine Chanty ihre Erfahrungen mit der traditionellen Lernweise so:<br />
64 Schröder, Ina (2008), S. 92f.