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Fotos: AKG Images, Hans Scherhaufer (Autor)<br />
Machen wir es kurz, Herr Friedrich: Wer<br />
war schuld am Ersten Weltkrieg?<br />
Jörg Friedrich: Das deutsche Publikum<br />
ist schuldverliebt. Aber schuld ist<br />
jemand an einem Verkehrsunfall, nicht<br />
an dem gegenseitigen Abschlachten von<br />
Abermillionen Leuten.<br />
War der Erste Weltkrieg nicht der<br />
größte anzunehmende Verkehrsunfall<br />
der Geschichte?<br />
Stellen Sie sich vor: Alle Autos in<br />
Europa fahren mit Karacho aufeinander<br />
los. Sieht einer ein Auto, gibt er Vollgas<br />
und hält darauf zu. Die Autos sind bald<br />
Schrott, es werden neue gebaut – eigentlich<br />
nur noch Autos für Zusammenstöße,<br />
der Rest ist zweitrangig. Die nächsten<br />
Jahrgänge bekommen den Führerschein.<br />
Das läuft zwei, drei <strong>Jahre</strong> mit wachsender<br />
Wut. Fragen Sie danach, wer 1914 als<br />
Erster falsch geblinkt hat? Man will doch<br />
wissen, warum diese Menschen nicht aufhören.<br />
Wovon sind sie besessen? Um dieser<br />
Frage auszuweichen, sagt man, ein<br />
Schuldiger habe damit angefangen.<br />
Schuld ist keine historische Kategorie?<br />
Nein. Niemand fragt, wer schuld gewesen<br />
sein soll an der Reformation oder<br />
der Völkerwanderung. Das ist Quatsch.<br />
Im Krieg aber war die Frage von Belang.<br />
Die Schuldfrage gehört zur Propagandafront.<br />
Jede Regierung muss ihren<br />
Soldaten sagen, warum sie sie ins Sterben<br />
schickt. Krieg meint Töten und Sterben.<br />
Seine Materie sind das Herz und das<br />
Fleisch der Soldaten. Ist die Armee nicht<br />
mehr zum Sterben bereit, ist der Krieg<br />
beendet. Den Männern wird in Verdun<br />
gesagt, ihr seid hier, an einem militärisch<br />
letztlich unbedeutenden Platz, um<br />
zu sterben. Ihr verblutet nicht, weil die<br />
Regierung politisch friedensunfähig ist,<br />
sondern weil der Feind keine Wahl lässt.<br />
Am Ende hat man zehn Millionen Tote,<br />
und die Welt ist schlechter als vorher.<br />
Historiker nehmen Schuldzuweisungen<br />
vor. Sean McMeekin hat soeben in seinem<br />
Buch „Juli 1914“ das Zarenreich für<br />
den Ersten Weltkrieg verantwortlich<br />
gemacht. Deutsche Historiker wie Gerd<br />
Krumeich oder Volker Berghahn sehen<br />
die Hauptverantwortung bei Wilhelm II.<br />
oder „vor allem in Berlin und Wien und<br />
Jörg Friedrich<br />
„Der Brand. Deutschland<br />
im Bombenkrieg 1940–1945“<br />
wurde 2002 zum internationalen<br />
Erfolg und löste eine Historikerdebatte<br />
aus. Zuvor hatte<br />
der in Essen gebo rene Jörg<br />
Friedrich über „Das deutsche<br />
Heer in Russland 1941 bis 1945“<br />
und über den bundesrepublikanischen<br />
„Freispruch für die<br />
Nazi-Justiz. Die Urteile gegen<br />
NS-Richter seit 1948“ geforscht<br />
Indische Hilfstruppen unterstützten<br />
englische Soldaten.<br />
Eine Postkarte zeigt sie 1914<br />
weitaus weniger in London, Paris oder<br />
St. Petersburg“.<br />
An Torheiten Kaiser Wilhelms und<br />
an Brutalitäten des deutschen Oberkommandos<br />
mangelte es nicht. Ich muss meinen<br />
Kollegen insofern zustimmen, als es<br />
Wilhelm möglich gewesen wäre, seine<br />
Solidarität mit Österreich-Ungarn aufzukündigen.<br />
Aber eines hat er richtig<br />
gesehen. Österreich-Ungarn wollte mit<br />
den serbischen Nationalisten abrechnen,<br />
weil sie diesen ganz sympathischen<br />
Vielvölkerstaat abwracken wollten. Die<br />
schlauen Serben ließen sich aber auf eine<br />
politische Lösung ein, und Wilhelm sah<br />
darin am 28. Juli 1914 morgens einen<br />
glänzenden diplomatischen Sieg. Krieg<br />
sei nun überflüssig. Er wollte nicht nach<br />
Osten marschieren, gegen seinen Vetter,<br />
Zar Nicolai, nicht nach Westen, gegen die<br />
französische Republik, geschweige denn<br />
nach Norden, gegen die eigene Familie<br />
in England.<br />
Es kam anders.<br />
Deutschland hatte 1914 keine Ziele<br />
bei den Nachbarn. Es musste aber seinen<br />
Beistandsvertrag mit Österreich erfüllen.<br />
Sofern Russland sich in den österreichisch-serbischen<br />
Konflikt einmischte,<br />
bestand für Wilhelm sonnenklar Bündnispflicht.<br />
Diese hörte auf, als Serbien zu<br />
99 Prozent eingelenkt hatte. Da machten<br />
die Russen jedoch schon seit zwei Tagen<br />
mobil. Alle Parteien hätten am 29.<br />
und 30. Juli bequem aussteigen können,<br />
aber jeder machte Ernst, aus der Angst,<br />
sonst zu verlieren. Das war das Hauptmotiv<br />
Wilhelms.<br />
Wie erklären Sie sich bei so viel Friedensliebe<br />
in Berlin die berühmte Aussage des<br />
Generalstabschefs Moltke vom Mai 1914,<br />
es bleibe „nichts anderes übrig, als einen<br />
Präventivkrieg zu führen“, ehe „die<br />
militärische Übermacht unserer Feinde“<br />
zu groß geworden sei?<br />
Präventivkrieger gibt es überall, damals<br />
wie heute. Die Militärs haben einen,<br />
wie sie meinen, genialen Plan in der<br />
Schublade und wollen losschlagen, solange<br />
die Chancen gut stehen. Nur wollten<br />
Kaiser Wilhelm und sein Kanzler<br />
Bethmann Hollweg Ende Juli eben nicht<br />
marschieren, solange sie sich sicher sein<br />
konnten, dass die andern nicht marschieren.<br />
Dann kam Moltke, wusste, dass die<br />
Russen schon unterwegs waren, und fand<br />
die Gelegenheit günstig.<br />
In der deutschen Schublade lag der untaugliche<br />
Schlieffen-Plan. Man wollte<br />
Frankreich binnen sechs Wochen niederwerfen<br />
und sich dann nach Russland<br />
wenden.<br />
Alle Kriegspläne waren untauglich,<br />
der französisch-russische „Plan XVII“<br />
noch viel mehr. Der Schlieffen-Plan fußte<br />
auf der Annahme, dass die Deutschen<br />
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<strong>Cicero</strong> – 5. 2014