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TITEL<br />
Europas goldene Zukunft<br />
2. LANDSCHAFTEN<br />
Eine Reise durch Europa ist wie der Gang durch eine reiche<br />
Ausstellung – hinter jeder Ecke eröffnet sich ein neues Bild<br />
Von WOLFGANG BÜSCHER<br />
Die romantische Vorstellung vom Reisen geht dahin,<br />
es erweitere das Bewusstsein, und der Reisende<br />
kehre stets fremder heim, als er losgezogen<br />
sei. Das ist auch nicht ganz falsch. Und doch kann<br />
ich sagen, von jeder großen Reise bin ich europäischer<br />
heimgekommen, als ich loszog.<br />
Ein Blick auf den Globus ist deprimierend. Er zeigt Europa<br />
als verzipfelte, ausfransende Warze am eurasischen Großkontinent.<br />
Aber der Astronautenblick sieht das Wesentliche<br />
nicht. Was so klein und zerklüftet ausschaut, ist Europas unverwechselbare<br />
Stärke. Nur hier herrscht nicht die Wucht schierer<br />
Fläche und Masse. Nur hier hat sich, begünstigt von einem<br />
lebensfreundlichen Klima, ein unglaublicher Reichtum des Besonderen<br />
herausgebildet. Und mir scheint, die Landschaft hat<br />
starken Anteil daran. Dass die Schweizer anfingen, Uhren zu<br />
bauen, die besten der Welt, hat etwas mit ihren Tälern zu tun.<br />
Dass die Italiener Kleidung herstellen, die beste der Welt, hat<br />
etwas mit Städten zu tun, in denen man Lust hat, sie auszuführen.<br />
Und dass die Deutschen Autos bauen, die besten der<br />
Welt, hat etwas mit den Bewegungsgesetzen unserer kontinentalen<br />
Zentrallage zu tun. Die Reihe ließe sich lange fortsetzen.<br />
Europas Genius lebt und webt in Landschaften. Es gibt<br />
Landschaften der Renaissance, solche der Reformation und katholisch<br />
durchbildete Landschaften. Es gibt Magna-Graecia-<br />
Küsten mit uralten Handelsstädten und karge Gegenden, die<br />
Konquistadoren brüteten. Es gibt die Wein-, Bier- und Schnapsbreiten,<br />
sie teilen Europa entlang von landschaftlichen so gut<br />
wie kulturellen, ja religiösen Meridianen: der weinige Westen,<br />
die bierige Mitte, der schnapsige Osten. Und das sind nur die<br />
allergröbsten Striche eines ungeheuer fein gezeichneten Bildes.<br />
Karl Marx hat von der asiatischen Despotie gesprochen.<br />
Nachdem ich durch die Große Kasachensteppe gefahren bin,<br />
durch die Gluthitze des Persischen Golfes und andere Zonen<br />
von mächtiger Monotonie, denke ich, es gibt auch eine Despotie<br />
solcher Landschaften. Eine Despotie der Sonne, des Staubes,<br />
der Tropen. Es gibt Entsprechungen zwischen Staats- und<br />
Landschaftsformen. Ich vermag mich nicht darüber zu wundern,<br />
dass der deutsche Rechtsstaat oder die italienische Stadtrepublik<br />
nicht in der arabischen Wüste entstanden sind.<br />
Durch die gewaltig-monotonen Landschaften der Großkontinente<br />
zu reisen, hat seine Magie und Schönheit, ich möchte<br />
sie nicht missen. Aber es bleibt eine Reise durch ein einziges so<br />
monströses wie grandioses Bild. Durch Europa zu reisen, ist etwas<br />
radikal anderes. Es heißt, Bilder über Bilder zu sehen, hinter<br />
jeder Biegung des Flusses, der Autostrada ein neues – durch<br />
eine unfassbar reiche Ausstellung zu gehen, von Saal zu Saal,<br />
und in jedem wechseln Licht, Farben, Motive.<br />
Die europäische Malerei, Musik, Literatur, sie konnten nur<br />
hier entstehen, in diesem von Natur und Mensch in Jahrtausenden<br />
durchgeistigten, durchgearbeiteten Weltwinkel. Das ist<br />
Europas Charme und Genius – das Durchgearbeitete, wieder<br />
und wieder. Eine Dignität der Erinnerung, die das Neue sät,<br />
nicht erstickt. Das geht nicht in der Steppe, in der Wüste, in<br />
der Prärie, das geht nur hier. Aus all dem heraus lebe, träume,<br />
schreibe ich, auch wenn ich fern davon bin.<br />
WOLFGANG BÜSCHER, Jahrgang 1951, ist Reiseschriftsteller<br />
und Reporter bei der Tageszeitung Die Welt. Sein Buch „Berlin –<br />
Moskau. Eine Reise zu Fuß“ war ein Bestseller<br />
Illustration: Martin Haake<br />
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<strong>Cicero</strong> – 5. 2014