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Cicero 10 Jahre (Vorschau)

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Der mexikanische Maler Manuel Miranda will „Kunst an der Grenze<br />

schaffen, fördern und weiterentwickeln“. Er lebt in McAllen<br />

Am Día de los Muertos, einem der wichtigsten mexikanischen<br />

Feiertage, besucht Stefan Falke den Schrein von<br />

„Juan Soldado“, dem Schutzheiligen der Grenzgänger. Er<br />

steht in Tijuana, die Stadt am Pazifik mit 1,5 Millionen Einwohnern<br />

liegt an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Es ist das<br />

Jahr 2008. Unter der Kuppel der kleinen Kapelle auf dem ältesten<br />

Friedhof der einstigen Touristenstadt fühlt sich der Fotograf<br />

aus New York wie unter einer Glocke aus Angst – bis zum Ende<br />

des <strong>Jahre</strong>s werden 843 Menschen bei Gefechten lokaler Drogenkartelle<br />

sterben. Falkes Besuch bei dem Schutzheiligen wird zum<br />

Beginn einer mehrjährigen Entdeckungsreise entlang der Grenze<br />

zwischen Mexiko und den USA.<br />

Während seiner Reisen südlich des meistfrequentierten Grenzübergangs<br />

der Welt lernt Falke Künstler, Galeristen und die Vizedirektorin<br />

des Museums für zeitgenössische Kunst kennen. „Die<br />

Diskrepanz zwischen der Realität und den Behauptungen der Medien<br />

über Mexiko war erstaunlich“, sagt der Fotograf. Er versteht,<br />

dass die Bewohner Tijuanas ihre Stadt nicht nur als Krisenschauplatz,<br />

sondern auch als Laboratorium für einen rapiden demografischen<br />

Wandel und transkulturellen Austausch begreifen.<br />

Die Mauer, gegen die sich die kosmopolitische Metropole Tijuana<br />

presst, ist zum Symbol der Grenzstadtidentität geworden:<br />

Vor den meterhohen Stahllatten feiern Familien die Quintaneras,<br />

den Übergang vom Kind zur Frau der 15-Jährigen, hier lassen sich<br />

Hochzeitspaare fotografieren. Der Ort ist Teil eines Staates, der<br />

La Frontera heißt und als schmaler Streifen vom Pazifik bis zum<br />

Atlantik reicht. Am Atlantik liegt die Stadt Matamoros, sie ist eines<br />

der Zentren des Drogenterrors. Hier trifft Falke auf Patricia<br />

Ruiz-Bayon. Sie hat das Massaker an 72 Migranten durch die Zeta-<br />

Gang im Jahr 20<strong>10</strong> in einer rituellen Performance aufgearbeitet.<br />

In Ciudad Juárez, wo in manchen <strong>Jahre</strong>n bis zu 3000 Menschen<br />

umgebracht wurden, wagte sich Mayra Martell an das<br />

Tabuthema unauffindbarer junger Mädchen und<br />

Frauen und fotografierte die von den Eltern unangetasteten<br />

Zimmer der Verschollenen. Für ihre<br />

Arbeit riskiert Martell ihr Leben. „Künstler genießen<br />

nur so lange Immunität, wie ihre Arbeit unpolitisch<br />

ist“, sagt Falke.<br />

Nicht weniger beeindruckend sind die prächtigen,<br />

über die ganze Stadt ausgebreiteten Wandmalereien<br />

des Jellyfish-Kollektivs. Wie jeder in Ciudad<br />

Juárez wurden auch diese jungen Künstler mit<br />

furchtbaren Verbrechen konfrontiert – sie wehren<br />

sich mit Farbe gegen die Gewalt. Das gilt auch für<br />

das Taller-Yonke-Team, das seine Fresken als postapokalyptisches<br />

Erbe in Nogales hinterlässt.<br />

Was bleibt, wenn irgendwann einmal das<br />

<strong>10</strong>0-Millionen-Dollar-Geschwader der Helikopter<br />

und Überwachungsdrohnen den Himmel über der<br />

Stadt verlassen hat, wenn die gepanzerten Polizeistreifen<br />

abgezogen und alle Bewohner ausgezogen<br />

sind – letzte Lebenszeichen einer Zivilisation, wie<br />

die Wandmalereien von Pompeji.<br />

CLAUDIA STEINBERG<br />

Jellyfish ist ein Künstlerkollektiv in Ciudad Juárez.<br />

Grenzgänger – im wörtlichen wie übertragenen Sinn<br />

Fotos: Stefan Falke/Laif (Seiten 76 bis 84)<br />

84<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014

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