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BERLINER REPUBLIK<br />
Debatte<br />
verzichtet, politische Weltanschauungen<br />
zu errichten, sondern dicht bei den Problemen<br />
der Gegenwart bleiben soll, Camus<br />
hätte wohl gesagt, der Erde.<br />
Grüne Freiheit, das wäre nicht nur<br />
eine formale oder in die Zukunft versprochene,<br />
sondern eine, die sich an der<br />
realen und reellen Freiheit für möglichst<br />
viele Menschen misst. Sie schließt die Abwehr<br />
von sozialer Not und Bedrängnis<br />
ein – Freiheit und Gerechtigkeit sind für<br />
Camus nur zusammen zu erreichen –,<br />
geht aber darüber hinaus. Freiheit heißt,<br />
sich in Solidarität verwirklichen zu können.<br />
Sie ist eine Offenheit, eine Möglichkeit.<br />
„Weiß man, zu was der Mensch alles<br />
fähig ist, im Guten wie im Schlechten,<br />
weiß man auch, dass es nicht allein der<br />
Mensch ist, der beschützt werden muss,<br />
sondern die Möglichkeiten, die ihm innewohnen<br />
– seine Freiheit.“<br />
Kern grüner Freiheit wäre das Offenhalten<br />
eines existenziellen Raumes,<br />
durch den der Zugang zur Selbstverwirklichung<br />
gewahrt bleibt. Ein neuer grüner<br />
Liberalismus heißt, möglichst vielen<br />
Menschen in Gegenwart und Zukunft die<br />
Ressourcen und Voraussetzungen zu garantieren,<br />
sich so zu entfalten, wie es ein<br />
selbstbestimmtes, weltoffenes, gerechtes<br />
Leben erfordert. In letzter Konsequenz<br />
kann dies bedeuten, dass nicht unsere<br />
Freiheit als Leitbild das Leben der anderen<br />
definiert, sondern das Leben der anderen<br />
auf unsere Freiheit wirkt.<br />
Dieser Ansatz ist für die Positionierung<br />
einer um ihre Eigenständigkeit ringenden<br />
Partei eine gute Nachricht: Sind<br />
wir links? Oder bewahrend konservativ?<br />
Oder liberal? Aus einer eigenständigen<br />
Freiheitsperspektive gesprochen, lautet<br />
die Antwort: Wir wollen uns gar nicht<br />
in eine politische Weltenlehre einpassen.<br />
Wenn die CDU Wohlstand und Sicherheit<br />
für die bewahren will, die beides<br />
haben, und die SPD dafür eintritt,<br />
dass Wohlstand und Sicherheit für die erreichbar<br />
sein sollen, die beides noch nicht<br />
haben, dann sollten die Grünen für das<br />
eintreten, was über Wohlstand und Sicherheit<br />
hinausweist. Das Recht auf eigene<br />
Zeit gehört genauso dazu wie die<br />
Möglichkeit, über Zeit autonom zu bestimmen.<br />
Oder die Aussicht, Zeiten für<br />
Fürsorge und Arbeit miteinander vereinbaren<br />
zu können. Zeit ist Freiheit. Zu diesem<br />
Ansatz passt ein freies Denken, das<br />
Bubble Tea zu<br />
verbieten, aber<br />
Haschisch zu<br />
erlauben,<br />
bekommt Otto<br />
Normalbürger<br />
zu Recht nicht<br />
logisch<br />
übereinander<br />
über kurzfristige Bedürfnisse hinausgeht.<br />
Die Höhe der EEG-Umlage kann<br />
nicht zur Richtschnur dafür werden, ob<br />
Atomkraftwerke länger laufen oder nicht.<br />
Der Preis für Rindfleisch an der Discountertheke<br />
kann nicht darüber entscheiden,<br />
zu welchen Bedingungen wir Tiere halten<br />
und töten.<br />
DIE GRÜNE PARTEI steht für das Versprechen,<br />
dass das Leben anders sein kann.<br />
Wir leben aber eine Politik, die sich nicht<br />
mehr traut, große Veränderungen zu adressieren.<br />
Statt uns im Kleinen zu verlieren,<br />
müssten wir uns auf die großen<br />
Themen konzentrieren. Dafür sollten<br />
wir keineswegs auf die Mittel des Ordnungsrechts<br />
verzichten. Man kann die<br />
Welt nicht nur mit Flyern oder Aufklebern<br />
verändern. Aber wir sollten uns weniger<br />
in Debatten um Heizpilze, Werbeverbote,<br />
Helmpflichten auf Fahrrädern<br />
oder Radfahren im Wald einlassen, auf<br />
Limonaden- oder Motorroller-Verbote.<br />
Wir sollten lieber die nächste ökologische<br />
Steuerreform vorbereiten, eine<br />
Energiewende nach dem EEG entwerfen,<br />
eine Landwirtschaft ohne Subventionen<br />
aufzeigen, eine Wirtschaftspolitik<br />
ohne den Export von Unfreiheit entwickeln,<br />
Arbeits-, Steuer- und Sozialrecht<br />
so verändern, dass das Recht auf Zeit<br />
garantiert wird, und eine Außenpolitik,<br />
die das Primat der Freiheit anderen Ländern<br />
zugesteht.<br />
Ein grünes Verbotskleinklein darf<br />
nicht zur Ersatzhandlung für tatsächliche<br />
Veränderung werden. Mit Waffen<br />
spielen die meisten Kinder, seit es Pfeil<br />
und Bogen gibt. Heute sind es Paintball<br />
oder Internet-Shooterspiele. Kulturelles<br />
Erschaudern über technischen Fortschritt<br />
muss nicht in Verboten enden. Direkte<br />
militärische Forschung sollte nicht<br />
Aufgabe unserer Universitäten sein, aber<br />
etwa die Erforschung besserer Spracherkennungstechnik<br />
schon, auch auf die<br />
Gefahr hin, dass sie militärisch genutzt<br />
werden kann. Bubble Tea wegen zu hohen<br />
Zuckeranteils zu verbieten, Haschisch<br />
aber zu erlauben, kriegt Otto<br />
Normalbürger zu Recht nicht logisch<br />
übereinander.<br />
Die Grünen könnten auch mal ein<br />
paar Verbote abschaffen: Im schleswigholsteinischen<br />
Naturschutzgesetz gibt es<br />
ein Betretungsverbot für alle landwirtschaftlichen<br />
Flächen. Aber warum soll<br />
man Land nicht betreten dürfen, wenn es<br />
keinen wirtschaftlichen Schaden auslöst<br />
oder Tiere verschreckt? Und Übernachten<br />
in Naturschutzgebieten, am Strand,<br />
im Wald: Solange man nichts zerstört,<br />
was zu schützen ist, spricht nichts dagegen.<br />
Natur soll erlebbar sein. Nicht nur<br />
um ihrer selbst willen schützen wir Natur,<br />
sondern auch um unserer selbst willen.<br />
Aber Freiheit bedeutet eben auch<br />
die Verpflichtung, Rücksicht zu nehmen,<br />
sich – mit Camus gesagt – „im Zaum zu<br />
halten“, im Jargon der Landwirtschaftspolitik:<br />
sich auch an „gute fachliche Praxis“<br />
zu halten, oder als Banker: sich vom<br />
gierigen Schielen auf die letzte Zinskommastelle<br />
zu befreien. Die Frage stellt sich<br />
stets: Haben wir Zutrauen in die Gesellschaft,<br />
dass sie das hinkriegt? Jede Regel<br />
ist ein Beweis unseres Misstrauens.<br />
Von Albert Camus kann man lernen,<br />
wo die Scheidelinie verläuft: Es ist<br />
noch immer richtig, ja notwendig, die<br />
Welt besser zu machen, aber dazu muss<br />
man nicht der bessere Mensch sein oder<br />
bessere Menschen benötigen. Mit Camus<br />
sollten die Grünen wieder gegen<br />
die „Stehkragen-Jakobiner“ aufbegehren<br />
und alles dafür tun, selbst keine zu<br />
werden. Sie sollten mit einer politischen<br />
Haltung agieren, die „weder Belehrung<br />
noch die bittere Wahrheit der Größe<br />
sucht. Stattdessen Sonne, Küsse und erregende<br />
Düfte.“<br />
56<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014