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Cicero 10 Jahre (Vorschau)

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Illustration: Marco Wagner; Fotos: Brantner, Johannes Arlt/laif<br />

Freiheit ist bei den Grünen eine<br />

ambivalente Sache: Einerseits<br />

streiten wir dafür, dass jede<br />

und jeder so sein, leben und<br />

lieben kann, wie sie oder er<br />

es will. Andererseits wollen wir munter<br />

jede Menge Regeln einführen, die nicht<br />

nur wildes Wirtschaften regulieren, sondern<br />

auch in das Privatleben eingreifen:<br />

Werbeverbote, Tempolimits, Alkoholverbote,<br />

Düngevorschriften. Im Bundestagswahlkampf<br />

setzte sich – sicher auch unter<br />

der Missverstehens-Beihilfe unserer<br />

geschätzten politischen Mitbewerber –<br />

die Erzählung der grünen Bevormundung<br />

durch.<br />

Jetzt soll es wieder um grüne Freiheit<br />

gehen. Der Bundesvorstand plant<br />

einen Freiheitskongress. Und der Bundesparteitag<br />

beschloss direkt nach der<br />

vergeigten Wahl: „Wir wollen zeigen,<br />

dass der Deutsche Bundestag mit der FDP<br />

nur eine neoliberale Partei verloren hat,<br />

nicht aber eine Kraft für einen verantwortungsvollen<br />

Liberalismus. Selbstbestimmung<br />

und Liberalität sind bei uns<br />

Grünen zu Hause.“<br />

Die Grünen als Partei der Liberalität<br />

– die Behauptung schmeckt etwas<br />

schal. Sie klingt nach FDP-Erbschleichertum,<br />

nach Veggie-Day-Traumatherapie.<br />

Vielleicht ist der Liberalismus ja tatsächlich<br />

bei „uns“ zu Hause. Aber wir müssen<br />

einsehen, dass ein liberaler Zungenschlag<br />

kein Beweis ist und noch lange<br />

keine Strategie. Die Grünen haben bisher<br />

die Frage nicht beantwortet, ob sich bei<br />

ihnen etwas ändern soll und wenn ja, was.<br />

Dabei birgt der Freiheitsdiskurs tatsächlich<br />

eine große Chance für die Partei,<br />

und ein bisschen auch für die Bundesrepublik,<br />

sich nochmals neu zu erfinden.<br />

Damit könnten wir der Gesellschaft im<br />

Merkel-müden Deutschland einen Impuls<br />

geben, die Republik wacher, kreativer,<br />

freier zu machen. Dazu müssen sich die<br />

Grünen die Freiheit nehmen, Freiheit neu<br />

zu denken. Erstmal muss die Partei ein<br />

Sensorium gegen obligatorische Ismen<br />

und gegen Bevormundung entwickeln.<br />

So eine Haltung finden wir in ausgeprägt<br />

politischer Form im Werk von Albert<br />

Camus. Vielleicht ist es Zufall, dass<br />

der <strong>10</strong>0. Geburtstag des energischen Freiheitsdenkers<br />

mit der Suche der Grünen<br />

nach Orientierung zusammentraf. Aber<br />

Zufall ist der Zwilling der Freiheit, und<br />

er kann Camus zum Paten des grünen<br />

Freiheitsprojekts machen. Camus hat<br />

genau das, was die Grünen jetzt brauchen:<br />

Aus einem tief gegründeten Humanismus<br />

speisen sich seine Lebensbejahung<br />

und Bevormundungsverneinung:<br />

Camus badete und sonnte sich für sein<br />

Leben gern nackt, Salz, Sonne, Haut,<br />

Meer – das hatte existenzielle, „befreiende“<br />

Bedeutung, aber den „Nudismus“<br />

als Freiheit vorschreibende Zwangsjacke<br />

hielt er für einen „verqueren Protestantismus<br />

des Körpers“. Wertgeleitete Haltung<br />

ohne Ideologieklappe, das wäre die<br />

grüne Freiheit. Jeanyves Guérin nannte<br />

diese Camus’sche Haltung „programmlose<br />

Schärfe“ und Joseph Hanimann „radikales<br />

Augenmaß“. Genau so sollten die<br />

Grünen sein.<br />

IN SEINEM LETZTEN, erst posthum veröffentlichten<br />

und großartigen Buch „La<br />

postérité du soleil“ schreibt Camus:<br />

„Hier lebt ein freier Mensch. Niemand<br />

schuldet ihm etwas.“ Mit dieser Umkehrung<br />

der alltäglichen Besitzlogik bringt<br />

er seine Freiheitsphilosophie auf den<br />

Punkt. Das für die Freiheit relevante<br />

Die Autoren<br />

Auf einer Zugfahrt kamen die<br />

Grünen Franziska Brantner und<br />

Robert Habeck ins Gespräch.<br />

Sie entwickelten die Idee zu diesem<br />

Text. Habeck, 44 und Doktor<br />

der Philosophie, ist in Schleswig-<br />

Holstein Vize-Ministerpräsident<br />

sowie Umwelt- und Energieminister.<br />

Brantner, 34 und Doktorin<br />

der Politologie, wechselte im<br />

Herbst vom EU-Parlament in den<br />

Bundestag. Sie lebt in Heidelberg<br />

Kriterium ist nicht, dass ein Subjekt autonom<br />

und unabhängig ist, sondern dass<br />

es andere nicht in ein Schuldverhältnis<br />

gebracht hat. Selbstbestimmung, Unabhängigkeit,<br />

Freiheitsrechte für Worte, Taten<br />

und Gedanken – die liberale Philosophie<br />

der Moderne wird hier auf den<br />

Kopf gestellt.<br />

Die Freiheitsfrage ist traditionell in<br />

der Philosophie in ihrer radikalen Zuspitzung<br />

immer die Frage nach der Selbstbestimmung<br />

bis zum Ende, die Frage der<br />

Verfügung auch über den eigenen Tod<br />

durch Suizid. Das war auch für Camus<br />

die philosophische Schlüsselfrage unter<br />

dem Zeichen der Freiheit. An ihr ist eine<br />

grundsätzliche Umkehrung des Freiheitsbegriffs<br />

– und seines Gegenpols, die Unfreiheit<br />

durch Schuld – herauszuarbeiten,<br />

die den Grünen weiterhelfen kann. Camus<br />

würde nicht fragen: Ist man es jemandem<br />

schuldig weiterzuleben? Sondern:<br />

Schuldet mir jemand mein Leben?<br />

Das unterscheidet sich kategorial von<br />

einem oberflächlichen Liberalismus, der<br />

jedem nur die freie Entfaltung garantieren<br />

will.<br />

Das libertäre Denken der Freiheit<br />

macht die Urthemen der Grünen wie Naturschutz,<br />

Klimaschutz oder Atomausstieg<br />

nachgerade zur Übersetzung dieser<br />

Freiheit: Dass unsere Art, zu wirtschaften<br />

und zu verbrauchen, den Handlungsspielraum<br />

kommender Generationen begrenzt<br />

und diesen Freiheiten nimmt, ist<br />

ein Gemeinplatz. Von Soja-Importen aus<br />

Südamerika bis zu Deutschlands Außenhandelsüberschuss<br />

exportieren wir Freiheitsverluste.<br />

Ihnen gegenüber steht der<br />

Freiheitsanspruch der Selbstverwirklichung:<br />

Wirtschaftswachstum, Konsumgesellschaft,<br />

Fahren und Reisen, so viel<br />

und so weit man will, der Anspruch auf<br />

Plastiktüten und Einwegdosen inklusive.<br />

Grundrechte, Bewegungsfreiheit,<br />

Freiheit, die Berufe auszuüben, die wir<br />

wollen, Freiheit zu denken und zu forschen,<br />

daran macht sich jedoch ein voller<br />

Begriff von Freiheit fest. Ein zu enger<br />

Begriff von Freiheit nimmt sie uns<br />

gerade. Die vermeintliche Freiheit führt<br />

uns dann – Camus weitergedacht – selbst<br />

in Schuldverhältnisse und damit de facto<br />

in Unfreiheit.<br />

Camus’ Denken kann der programmatisch-philosophische<br />

Kern für ein<br />

grünes Freiheitsdenken sein, das darauf<br />

55<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014

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