24.04.2014 Aufrufe

Cicero 10 Jahre (Vorschau)

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

5. DEMOKRATIE<br />

Die Verfasstheit einer Gesellschaft erkennt man auch an den<br />

Seitenstreifen der Straßen. Gut, dass wir diese Streifen haben<br />

Von K AREL HVÍŽĎALA<br />

Illustration: Martin Haake<br />

Als ich im Sommer 1978 ins Exil ging, sagte mir ein<br />

deutscher Freund: „Stell dir vor, ich war vor kurzem<br />

in der Tschechoslowakei, und das totalitäre<br />

Regime kann man bei euch bereits auf dem Weg<br />

vom Flughafen erkennen. Es fehlen die weißen Seitenstreifen<br />

an den Straßen. Die Bürger wissen also nicht, wo die<br />

Grenzen des Bereichs verlaufen, für den der Staat haftet, und ab<br />

welcher Stelle der Fahrer die Verantwortung übernimmt. Das<br />

ist in einer funktionierenden Demokratie unzulässig.“<br />

Damals ist mir zum ersten Mal klar geworden, was Demokratie<br />

in der Praxis bedeutet: eine Gemeinschaft vollberechtigter<br />

Bürger, die die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten<br />

und somit auch der öffentlichen Straßen übernehmen. Sie<br />

schützt die Bürger – und dient nicht einer kleinen Anzahl von<br />

manipulativen Machthabern. Im heutigen Europa sind weiße<br />

Seitenstreifen fast allgegenwärtig, sie enden irgendwo in Polen<br />

hinter Bialystok und in der Slowakei hinter Košice. Wir<br />

teilen gemeinsam einen vernetzten Raum und somit auch die<br />

Regeln und Vorstellungen darüber, wie man Demokratie weiterentwickeln<br />

kann.<br />

Ich erinnere mich bis heute, wie wir das erste Mal aus<br />

Deutschland über Österreich in die italienischen Alpen zum<br />

Skifahren gereist sind und unterwegs nicht ein einziges Mal angehalten<br />

wurden. Nur mein kleiner Sohn beschwerte sich, denn<br />

für ihn waren die Grenzüberschreitungen ins freie Europa so<br />

etwas wie ein Actionspiel gewesen. Er musste dann immer so<br />

tun, als ob er im Auto auf dem Rücksitz schlafen würde, während<br />

unter ihm gestapelte Manuskripte versteckt waren. Hätten<br />

die Zollbeamten sie entdeckt, wären wir im Gefängnis gelandet.<br />

Heute können meine Enkel solche Geschichten nicht glauben.<br />

Wer heute von Berlin nach Prag fährt, wird nicht an der<br />

Grenze abgebremst, sondern erst dort, wo die Autobahn endet<br />

– und zwar von protestierenden Umweltschützern, die verhindern<br />

wollen, dass diese neue und wichtige Verkehrsader die<br />

herrliche Natur des Böhmischen Mittelgebirges zerstört. Auch<br />

das ist Demokratie: Die Bürger haben das Recht, ihre Landschaft<br />

zu verteidigen.<br />

Demokratie ist jedoch kein starrer Zustand, sondern ein<br />

endloser Prozess, der mit der jeweiligen Tradition in den unterschiedlichen<br />

Ländern zusammenhängt. Sie wird in Großbritannien,<br />

wo ihr Beginn markiert wird von der mythischen Magna<br />

Carta aus dem Jahr 1215, anders verstanden als in Frankreich,<br />

wo sie ihre Wurzeln hat in der Französischen Revolution des<br />

<strong>Jahre</strong>s 1789. Anders auch in Deutschland und Österreich, wohin<br />

sie nach 1945 exportiert wurde. In Mitteleuropa konnte<br />

die Demokratie sogar erst nach 1989 Fuß fassen. Heute bauen<br />

wir in Europa an einer neuen, gemeinsamen demokratischen<br />

Tradition – was dazu führt, dass man anfängt, über die Demokratie<br />

anders zu denken. Der Soziologe und Philosoph Ralf<br />

Dahrendorf fasste es vor einigen <strong>Jahre</strong>n in seinem Buch „Der<br />

Wiederbeginn der Geschichte“ zusammen.<br />

Die gegenwärtig nachklingende Krise der Europäischen<br />

Union sowie die aggressive Annexion der Krim durch Russland,<br />

die der Annexion des Sudetenlands durch Deutschland<br />

im Jahr 1938 sehr ähnlich ist, könnten für die gesamte Europäische<br />

Union womöglich eine große Chance sein, um Veränderungen<br />

herbeizuführen. Ich denke da beispielsweise an eine<br />

noch engere Zusammenarbeit, insbesondere was Verteidigung<br />

und Sicherheit betrifft.<br />

Es sind letztlich einige Grundwerte, die die Basis unseres<br />

gemeinsamen Kontinents bilden: Freiheit, Gleichheit, Toleranz,<br />

Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Prinzipien der Demokratie.<br />

Europa ergibt einen Sinn, solange wir noch über und<br />

für diese Werte streiten. Es ist ein Streit über das Wesen Europas.<br />

Solange wir diesen Streit mit Ausdauer und ohne Unterlass<br />

führen, wie Nietzsche sagte, befinden wir uns in Europa.<br />

KAREL HVÍŽĎALA ist einer der bekanntesten Journalisten und<br />

Essayisten Tschechiens. Die Bücher des 1941 geborenen Havel-<br />

Biografen sind auch auf Deutsch erschienen<br />

31<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!