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Forschung und Gesellschaft<br />
Wer oder was ist<br />
eigentlich eine Familie?<br />
Die glänzende Studie von Andreas Bernard zur<br />
Entwicklung nicht nur der Reproduktionsmedizin<br />
Am 25. Juli 1978, kurz vor Mitternacht,<br />
kam im britischen Oldham<br />
ein Kind per Kaiserschnitt zur<br />
Welt: der erste Mensch, der nicht beim<br />
Sex, sondern im Labor gezeugt worden<br />
war – Louise Brown, das Mädchen<br />
aus der Petrischale. Die Mutter, die aufgrund<br />
fehlender Eileiter nicht auf natürlichem<br />
Wege schwanger werden konnte,<br />
entstammte der Arbeiterschicht. Bereits<br />
Tage vor dem Geburtstermin herrschte<br />
Ausnahmezustand in der Klinik, unzählige<br />
Journalisten versuchten vergeblich,<br />
als Priester, Handwerker oder Pfleger<br />
verkleidet, bei der „Geburt des Jahrhunderts“<br />
dabei zu sein. Das Kreißsaal-Video<br />
kann man heute auf Youtube ansehen<br />
– es wurde vom Informationsdienst<br />
der britischen Regierung aufgezeichnet.<br />
Was damals eine Sensation war, ist<br />
heute flächendeckend praktizierte Fortpflanzungsroutine.<br />
Allein in Deutschland<br />
werden im Jahr 2014 wieder an<br />
die <strong>10</strong> 000 Kinder außerhalb des Mutterleibs<br />
gezeugt. Weltweit verdanken<br />
inzwischen fünf Millionen Menschen<br />
ihre Existenz den Techniken der „assistierten<br />
Empfängnis“ – so der unter<br />
Medizinern übliche Sammelbegriff für<br />
Samenspende, Leihmutterschaft und<br />
In-vitro-Fertilisation.<br />
In seinem Buch „Kinder machen“ nähert<br />
sich der Kulturwissenschaftler und<br />
Journalist Andreas Bernard dem Thema<br />
mit bemerkenswert ideologiefreiem<br />
Scharfsinn. Von der antiken Empfängnislehre<br />
des Aristoteles spannt er den<br />
Bogen zu den Regenbogenfamilien der<br />
Gegenwart, Reportagen werden mit diskursanalytischen<br />
und wissenschaftshistorischen<br />
Überlegungen enggeführt.<br />
Die Geburt von Louise Brown markiert<br />
in gleich mehrfacher Hinsicht einen<br />
dramaturgischen Höhepunkt dieser<br />
Bestandsaufnahme der Reproduktionsmedizin<br />
und ihrer gesellschaftlichen Begleitumstände.<br />
So konstatiert Bernard<br />
die wissenschaftshistorische Gesetzmäßigkeit,<br />
derzufolge das Wissen von<br />
der Zeugung alle 150 <strong>Jahre</strong> revolutioniert<br />
wird. Den Anfang machte der niederländische<br />
Naturforscher Antoni van<br />
Leeuwenhoek, als er im Jahr 1677 unter<br />
seinem selbst gebauten Mikroskop die<br />
beweglichen „Samentierchen“ im männlichen<br />
Ejakulat entdeckte. Dass die Frau<br />
einen gleichwertigen Beitrag zur Entstehung<br />
neuen Lebens beisteuert, fand anderthalb<br />
Jahrhunderte später Karl von<br />
Baer heraus. 1827 sah er seine Vermutung<br />
der Existenz weiblicher Eizellen bestätigt,<br />
als er eine läufige Hündin tötete<br />
und deren Eierstöcke sezierte. Ende des<br />
<strong>Jahre</strong>s 1977 schließlich, acht Monate bevor<br />
das erste „Retortenbaby“ das Licht<br />
der Welt erblickte, gelang es Robert Edwards,<br />
dem später mit dem Nobelpreis<br />
ausgezeichneten Gynäkologen von Louise<br />
Browns Mutter, das Wissen um Ei und<br />
Samentierchen außerhalb des menschlichen<br />
Körpers fruchtbar zu machen.<br />
Aus der Gegenwartsperspektive ist<br />
insbesondere Bernards Rekonstruktion<br />
der Debatten interessant, die unmittelbar<br />
nach 1978 an der Tagesordnung waren.<br />
Vor allem in Deutschland einte die<br />
Ablehnung der Reproduktionsmedizin<br />
bis in die neunziger <strong>Jahre</strong> hinein die ansonsten<br />
unversöhnlichen Lager von Feministinnen,<br />
Kirchenvertretern, Konservativen<br />
und Linken. Das Vokabular in<br />
Leitartikeln und Parlamentsreden glich<br />
dabei erstaunlicherweise der Wortwahl,<br />
derer sich unlängst die Schriftstellerin<br />
Sibylle Lewitscharoff bediente, als sie<br />
pauschal all jene Kinder, die nicht auf<br />
die gute alte Art entstanden sind, öffentlich<br />
als „Halbwesen“ diskreditierte. Die<br />
Welle der Empörung, die ihr entgegenschlug,<br />
bestätigt Bernards aufklärungsoptimistischen<br />
Befund: Das öffentliche<br />
Bewusstsein scheint allmählich zu akzeptieren,<br />
dass die Würde des Menschen<br />
unabhängig von den Bedingungen seiner<br />
Entstehung existiert.<br />
Allerdings gibt es auch Schattenseiten.<br />
In Osteuropa und Indien boomt die<br />
Leihmütterindustrie, und obgleich die<br />
Retortenbabys heute „Wunschkinder“<br />
heißen, geraten manche von ihnen in<br />
ernsthafte Identitätskrisen, wenn sie erst<br />
im Erwachsenenalter mit der Erkenntnis<br />
konfrontiert werden, dass ihr sozialer Vater<br />
nicht mit ihnen verwandt ist.<br />
Zu den großartigsten Passagen des<br />
Buches gehören jene, in denen die Geschichte<br />
der Reproduktionsmedizin mit<br />
der Geschichte der Familie in Zusammenhang<br />
gebracht wird. Die biologisch<br />
und sozial nobilitierte Dreifaltigkeit von<br />
Mutter-Vater-Kind macht Bernard auf<br />
ihre historische Bedingtheit hin durchsichtig:<br />
Erst im 18. Jahrhundert avancierte<br />
die bürgerliche Kleinfamilie zum<br />
normativen Modell. Tiefe Risse erhielt<br />
diese Idealvorstellung von der „Keimzelle<br />
der Gesellschaft“ allerdings infolge<br />
der Umwälzungen von 1968. Gerade als<br />
die Reproduktionsmedizin Durchbrüche<br />
wie die Geburt von Louise Brown<br />
feierte, erreichten Scheidungsraten einen<br />
bis dato ungekannten Höhepunkt;<br />
in der Frauen- wie der Studentenbewegung<br />
grassierte der Überdruss an tradierten<br />
Lebensentwürfen. Für Bernard<br />
allerdings schließen sich die Nestwärme<br />
der Kleinfamilie und die medizinischen<br />
Methoden der asexuellen Zeugung keineswegs<br />
aus. Statt das überkommene Familienmodell<br />
endgültig auszuhöhlen, so<br />
die originell-versöhnliche These, bietet<br />
gerade die Reproduktionsmedizin Möglichkeiten,<br />
den Begriff der Familie mit alternativen<br />
Inhalten zu füllen. In der Petrischale<br />
lassen sich offenbar nicht nur<br />
Eizelle und Samen vereinen, sondern<br />
auch restauratives und revolutionäres<br />
Potenzial.<br />
Marianna Lieder<br />
Andreas Bernard<br />
„Kinder machen“<br />
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2014. 542 S., 24,99 €<br />
127<br />
<strong>Cicero</strong> – 5. 2014