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Cicero 10 Jahre (Vorschau)

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TITEL<br />

Europas goldene Zukunft<br />

<strong>10</strong>. JUGEND<br />

Europas Jugendliche haben mit vielen Problemen zu kämpfen.<br />

Nur radikales Umdenken verspricht ihnen eine goldene Zukunft<br />

Von JANNE TELLER<br />

In Europa wächst eine Generation im Bewusstsein auf, mit<br />

schlechteren Lebensumständen konfrontiert zu sein als<br />

ihre Eltern. Junge Europäer müssen sich mit unterschiedlichsten<br />

Problemen auseinandersetzen: einem unumkehrbaren<br />

Klimawandel, verschmutzten Meeren, Überbevölkerung<br />

und einer überalterten Gesellschaft. Zudem steigt die<br />

wirtschaftliche Ungleichheit. Immigranten und Flüchtlinge,<br />

die – zu Recht – auf der Suche nach besserer Lebensqualität<br />

zu uns kommen, schwächen die europäische Infrastruktur.<br />

Die Einwanderung wird zunehmen, je mehr die wirtschaftliche<br />

Ungleichheit wächst. Außerdem rückt durch die Entwicklung<br />

neuer Medien die Privatsphäre der Menschen in den Hintergrund.<br />

Und die radikale Rechte in Europa gewinnt an Boden.<br />

Im Durchschnitt ist in Europa ein Viertel der jungen Menschen<br />

arbeitslos. Im Süden, in Griechenland, Süditalien und<br />

Spanien, sind es mehr als 50 Prozent. Junge Südeuropäer wandern<br />

aus, um im Norden Jobs zu finden. Zu Hause oder im<br />

Ausland müssen sich europäische Jugendliche einem starken<br />

Konkurrenzdruck unterwerfen. Sie beginnen, einem unnatürlich<br />

schnellen Rhythmus zu folgen, der sie dazu bringt, selbstzerstörerische<br />

Verhaltensformen zu entwickeln. Sie leiden unter<br />

Essstörungen, ritzen sich, nehmen Drogen, Antidepressiva<br />

und trinken sich bewusstlos. Andere werden von sozialen Medien,<br />

Arbeit und Schönheitsoperationen abhängig. Oder sie gehen<br />

in dem Stress ganz unter.<br />

Selbstverständlich kann man über die unzähligen Möglichkeiten<br />

sprechen, die der europäischen Jugend heute geboten<br />

werden. Sie können in ganz Europa studieren und überall auf<br />

dem Kontinent arbeiten. Die Europäische Union hat sie stärker<br />

und reicher gemacht als den Großteil ihrer Altersgenossen<br />

auf der Welt. Aber all diese Gründe lassen in meinen Augen<br />

die Zukunft der europäischen Jugend nicht rosig erscheinen.<br />

Junge Europäer werden nur deshalb eine schönere, spannendere<br />

Zukunft haben, weil sie früher oder später begreifen<br />

werden, dass wir, sie, Europa und die Welt nicht so weitermachen<br />

können. Sie werden verstehen, dass Fortschritt aus einer<br />

zirkulären Harmonie des Gebens und Nehmens mit unserem<br />

Planeten entsteht und nicht aus einer Haltung des Plünderns<br />

und Wegwerfens. Sie werden begreifen, dass wir für alles, das<br />

wir in unserer Natur und unserer menschlichen Umgebung zerstören,<br />

irgendwann bezahlen.<br />

Ich habe auf Reisen mit vielen jungen Europäern gesprochen.<br />

Ihre Haltungen haben mich sowohl traurig als auch hoffnungsvoll<br />

gestimmt. Viele waren frustriert, weil sie dem Leistungsdruck<br />

nicht entsprachen; gleichzeitig suchten sie nach einem tieferen<br />

Sinn in der heutigen Gesellschaft. Wir haben ihnen keinen<br />

Weg vorgegeben, deswegen liegt es in ihrer Hand, ihn zu finden.<br />

Wenn die Jugend aufhört, zu oberflächlichen, leeren Idealen<br />

aufzuschauen, wird sie verstehen: Das Problem in unserem<br />

heutigen System liegt darin, dass man es nicht aufrechterhalten<br />

kann. Wenn sie begreifen, dass das Leben nicht nur aus<br />

kapitalistischem Wettbewerb besteht, werden sie einen sinnvolleren<br />

Weg finden.<br />

Das ist der Weg in die goldene Zukunft, nicht nur der europäischen<br />

Jugend, aber Europas. Und hoffentlich auch der Welt.<br />

JANNE TELLER ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin<br />

und Essayistin. Die gebürtige Dänin, Jahrgang 1964, war in den<br />

neunziger <strong>Jahre</strong>n Beraterin für die EU<br />

Illustration: Martin Haake<br />

38<br />

<strong>Cicero</strong> – 5. 2014

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